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Schamgefühl 

17. Mai 2021, Jürg Messmer

Mein ganzes Leben lang habe ich mich immer wieder geschämt, weil ich so egozentrisch bin. Immer wieder wollte ich die Welt retten und stand alleine da, beim Versuch - wie vermutet - nur mich selber zu retten. Bis heute ist das gleich geblieben. Es wird wohl ein Schatten bleiben, solange ich Mensch bin, oder dies denke. Versuche, die Welt denkend zu retten. Denken umzukehren. Die Umkehr.

Immer schämte ich mich ob meiner Bildung, ob meiner komplizierten Welt, und wünschte mir manchmal, einfach ein einfacher Mensch zu sein, der arbeitet, schwitzt, liebt, sich ärgert, und etwas über andere lästert. Einfach lebt, und wenn es nur ein Bier trinken ist - am Stammtisch. Oder ich habe die Nähe zu Alkoholikern, Obdachlosen und Huren gesucht. Auch die wollte ich natürlich retten. Ach Gott, wie oft habe ich mich lächerlich gemacht, und dann manchmal gedacht, dass ich ja bereits der einfache Mensch bin, der ich gerne sein möchte. Manchmal muss ich lachen, oder das Lachen bleibt mir im Hals stecken.

Ja, auch die ganze Welt retten wollte ich. Immer noch, denn ich bin stur. Ich kenne nichts anderes. Meine Sturheit ist der Stab, an dem ich mich aufrichte. Jesus, Christus, der Heiler, der Weltenretter, an dem habe ich mich abgearbeitet, auch wenn mich die Kirche und ihre Diener sehr oft genervt haben. Und wie das mit "den Nächsten zu lieben wie sich selbst" gehen soll, das ist mir immer noch ein Rätsel, denn einfach nett und anständig zu sein, das genügte mir nicht - auch wenn ich es meist trotzdem bin, oder es versuche. Ich habe mich immer angepasst, an allen Ecken und Enden, aus Angst etwas falsch zu machen. Ich habe einfach nie gewusst, wie es richtig machen. Angst, dann alleine dazustehen, ganz allein, aber richtig. Tödlich.

So habe ich immer meine Aufgabe gesucht, eine Wichtige natürlich, aber erst noch eine, die ich auch geniessen könnte. Einfach Pflichterfüllung, das hat mir nie gelegen. Auch heute nicht. Bin ja Egoist. Und schäme mich entsprechend. Doch ich kann eben diese Pflicht, die keine Freude macht, einfach nicht verstehen. Obwohl ich ja auch in der einfachen Pflichterfüllung manchmal Freude erfahren habe. Einfach, weil ich dann etwas mache, das halt gemacht werden muss. Und ich dann für einen Moment nicht mehr denken muss.

Also, selbst wenn ich mir wünsche, nicht mehr denken zu müssen, ist das reine Egozentrik. Ich möchte einfach den Frieden finden. Aber trotzdem noch etwas erleben, etwas interessantes, etwas neues, ohne gleich erschrecken zu müssen.

Ich schäme mich, wenn ich geizig bin, doch fast mehr, wenn ich Geld gebe, um dabei zu helfen. Aber eben auch das nur, um mich gut zu fühlen. Nein, das will ich nicht. Doch, warum eigentlich nicht? Ich möchte es, mich gut fühlen. Denn sich schlecht fühlen fühlt sich halt einfach auch schlecht an. Das nehm ich höchstens in Kauf, schlängle mich durch, so gut ich kann, und denke, dann kommt das Schöne bald wieder. Doch hoffe ich gleich: vielleicht kann ich dieses Schlechte auch mal so geniessen wie das Schöne, das ja eigentlich flüchtiger ist.

An den Wurm muss ich denken, der durch die Erde pflügt, vorne gehts rein, dann alles so mitten durch, und hinten kommts wieder raus. Und das ohne zu wissen, wie sinnlos das von aussen wirken kann. Denn der Wurm ist ja ein Teil des Ganzen, ohne es zu wissen. Was weiss ich denn schon! Wissen, das ja gleich nichts mehr nützt, wenn man es weiss. Denn Leben wiederholt sich nicht, ist immer wieder anders. Eigenartig, wie diese "Natur" funktioniert. Wie so ein knöcheriges Skelett zu Stande kommt. Wider allem besseren Wissen, oder grad diesem sei dank. Um Gottes Willen.

Ich schäme mich oft, doch denke ich auch, wie schön, dass ich durchblutet werde. Scham ist fast schon ein Lebensretter; besser als die meisten Medikamente. Keine Ahnung, warum so manche Menschen lieber ohne Scham leben würden. Meinen, dann eher sich selber sein zu können. Und halt solche Geschichten. Manchmal denke ich, dass der Mensch nicht aus Erde gemacht, sondern aus Geschichten entstanden ist, und sich das Leben auch im Menschen halt immer wieder neu erfindet, selbst wenn Neues auf den ersten Blick am Horizont nicht zu erkennen ist. Denn unser Horizont ist ja sehr klein, von Geburt zu Tod reicht er bestenfalls, also kaum Zeit, um etwas Gscheites in Ruhe gedeihen zu lassen.

Vor allem möchte ja mancher Mensch heutzutage sich selber genügen. Und da wird es dann halt schon schwierig. Da nützen auch Therapien oder Optimierungsversuche wenig, denn wenn die Gesamtidee nicht stimmt, dann kann ja dabei nichts Gutes herauskommen, ausser vermutlich das, was dann eben das Abfallprodukt dieses Versuches ist, und von dem man wenigstens hoffen kann, dass jemand anders es noch gebrauchen kann – wie der Sauerstoff, den die Bäume ausstossen, ohne den selber zu brauchen; ohne den wir Menschen, oder andere, nicht leben können. Es besteht also Hoffnung!

PS: Und ich bleibe dabei: ich rette die Welt. Und wenn es nur mein Arsch ist. Dann ist es eben der Arsch der Welt. Gut durchblutet, dank Schamgefühl.

Musik:
Auch das weckt Schamgefühle in mir, deshalb besser einfach ganz langsam: "Despacito", Luis Fonsi
Damit erträgt man das Schamgefühl besser: "la fuerza del corazon" (Die Kraft des Herzens), Alejandro Sanz

 

 

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