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Existenzielle Erfahrung 

19. November 2020, Jürg Messmer

Nachdem die neuesten Reisepläne klar, und Termine wie PCR-Test neu gebucht waren, alles eingefädelt und Zeit für Entspannung, ja zur Freude war, da erfasste mich eine tiefe Trauer. Ich dachte an meine Familie, meine Freunde in der Schweiz, und an das widerspenstige Einsiedeln. Sinéad sagte, you’re regretting. Nein, sagte ich, es ist einfach Trauer. Doch ist "bedauern" vermutlich ja dasselbe. Der Abend war trotzdem schön, auch lustig, und stimmig. Inklusive der flambierten Pilze zum Fisch, die Sinéad in der Bratpfanne mit Kupferboden zubereitete - in Anlehnung an meine Erzählungen aus meiner behüteten Jugend. Die Büchsen-Pfirsichhälften und Bananen, die mit Cointreau und Rum übergossen, unter lodernden Flammen in einer Kupferpfanne flambiert, und den Raum beleuchtete und Augen entzückte. Dies war damals in gutbürgerlicher oder auch neureicher Schweizer Küchen angesagt.

In der Nacht hatte ich wieder einen Albtraum. Der Dream Catcher hat also, je nach Sicht, die Arbeit schlecht oder eben gut gemacht. Im Traum fuhr ich alleine mit einem Sessellift diese überhängende Wand hinauf, immer in Gefahr, vom Sessel in den tiefen Abgrund abzurutschen. Man kann nichts machen. Die Angst ist da, der verzweifelte Griff, und einfach warten, bis die Fahrt vorbei ist. Einfach Springen und Loslassen wäre eine Möglichkeit gewesen, doch die kam mir nicht in den Sinn. Ich hielt mich fest. So landete ich oben, auf dieser Bergschulter, wo ein grosses Haus stand. Ich war drin. Auf diesem Balkon, einem offenen Korridor, der um einen gedeckten Innenhof herum verlief und die Zimmer verband - wie im herrschaftlichen Haus, das mir mal Astrid in Xela, nahe des Parque Central, gezeigt hatte.

Da sah ich Leute, dachte an ein Therapie-Zentrum. Ich glaubte, eine Frau, vielleicht Therapeutin oder Freundin zu erkennen; sie sass am Boden und liess ihre Beine durch das Geländer in der Luft baumeln. Doch kam kein Treffen zustande. Kaum sass ich da nieder, war sie irgendwie weg. Gleichzeitig schien es ein Berghotel zu sein, eines dieser schrecklichen Betonkästen, mit weitläufigen Kellern, Infrastrukturen, und betonierten Gängen, die laut und kalt hallen, wenn man da durchläuft. Gänge, die auch nach unten wieder zur Seilbahnstation führten.

Mitten in der Nacht wollte ich eine Zigarette rauchen, da ich nicht schlafen konnte und mein Herz in schnellem Rhythmus schlug. Doch wollte ich nicht rauchen. Nein, nicht schon wieder! Ich ging in diesen Keller runter, unsicher, ob ich wieder mit der Sesselbahn runterfahren sollte, und sah jemanden, der rauchte - in einem Seitenraum, so was wie ein Billiard-Salon oder eine Kellerbar. Und ich fragte ihn, ob er mir Tabak geben könne. Doch er hatte keinen. Es war verwirrend, er offerierte mir sowas wie eine Zigarette, die aussah wie eine Kapsel, eine kurze, durchsichtig grüne E-Zigarette, mit Kammern. Tabak, Haschisch? Jemand schien mich zu warnen. Man sagte, dieser Mann sei ein Drogenhändler aus Guatemala.

Ich erwachte, ganz. Ich war ja irgendwie vorher schon wach gewesen, doch jetzt lag ich im Bett, und wie oft, wird der gelebte Sturm zum Sturm im Kopf, und der Körper zum Schauplatz. Sturm im Wasserglas. Ich dachte an den Betrug, den eine Freundin aus Xela vor kurzem erlebt hatte. Ich glaube, das Schlimmste war oder ist, abgesehen von bedrohlichen materiellen Verlusten, oder sogar aufgehäuften Schulden, die Demütigung, die Kränkung, die Niederlage. Die Bestrafung dafür, dass man einfach jemandem hatte helfen wollen, und dabei teuer für die naive Unschuld bezahlen musste -  und das erst noch schmerzlich unverständlich.

Mir war klar, dass auch mir das passieren könnte, obwohl ich ja weit herumgekommen bin. Und Schweizer bin, also normalerweise zurückhaltend, und vorsichtig. Gleich dachte ich, dass dies eine grelle, rot blinkende Warnlampe sein könnte, dass auch in meinem Falle ein Betrug im Anzug ist, und ich naiv in die Falle laufe. Eine richtige Verschwörung! Kein Wunder, denn auch ich bin naiv, beharre darauf, unschuldig zu sein, auch wenn ich weiss, dass dies nicht möglich ist. Existenzielle Erfahrung, als Mensch, kann nicht unschuldig sein. Auch nicht schuldig. Beides zugleich, nicht. Existenziell. Leben kann nur erfahren, erlebt werden. Vielleicht ginge es ja auch mit klarem Denken, wie mir dies schon unzählige Male ans Herz, oder an den Verstand, gelegt worden war. Doch das kenne ich einfach nicht. Ich kenne nur bedingtes Denken. Abhängig vom Standpunkt. Von der Bewegung. Vom Gegenüber, und vom Wetter.

Nun bin ich auf dem Weg nach Guatemala. Die Reise ist gebucht, und es scheint jetzt voraussichtlich zu klappen. Doch ich habe ja keine Ahnung. Aus tausend Gründen habe ich entschieden, nicht zurück in die Schweiz zu gehen, um Weihnachten da zu feiern. Das war eine schwierige Entscheidung. Doch vielleicht dann klar, wenn ich einfach sage, dass ich in der Zwischenzeit zwar viel zu lernen hatte oder lernen konnte, halt einfach gelebt habe, immer bereit, die Spreu vom Weizen zu trennen. Unablässig, beharrlich. Bin wach, innerhalb meiner Bewusstseinsgrenzen, meines Erlebens, doch, um in die Schweiz zurückzugehen, dafür habe ich einfach nichts "Neues" gelernt, ich hätte nichts neues zu geben. Alles drängt nach Guatemala. Ja, die Illusion, die Aufgabe. Was ist der Unterschied. Vielleicht wartet auf mich die grosse Niederlage, wie sie mein Bruder mir mal bestimmt und schon fast verzweifelt prophezeit hatte, als ich auf meinen Plänen beharrte. Doch kein Ziel, nur der nächste Schritt in Sicht.

Wieder einmal fühle ich mich, als wäre ich in der Death Row. Unwichtig, ob ich schuldig oder unschuldig bin. Mit gesenktem Haupt laufe ich den Gang hinunter. Beklemmt, gefasst. Die Niederlage ist nicht in der Zukunft, sie ist da, sie ist in jedem Atemzug enthalten.

Vielleicht tönt es eigenartig, wenn ich sage, dass ich mich wie ein Kriegsberichterstatter fühle. Immer an der Front, an der Grenze, wo die Konflikte ausgetragen werden. Sinéad sagt, zieh die schusssichere Weste an. Ich, welche? Es ist kein Mut, der mich das machen lässt, manchmal nenne ich es Verzweiflung, oder innere Notwendigkeit. Vielleicht einfach Folge meiner ewigen Atemlosigkeit, meiner Unruhe, die mich immer schon begleitet hat, seit Anbeginn. Ich habe Sinéad gestern gesagt, dass ich immer noch den gleichen Traum verfolge, die widersprüchlichen Kräfte meines Lebens in Einklang zu bringen, die gleichen Kräfte, die ich auch in der - oder meiner - ganzen Welt am Wirken sehe. Oft sehe ich ja, dass es nicht anders gehen kann. Es ist einfach Leben. Doch muss ich es leben, ich muss etwas machen, herausfinden, was ich ändern kann und was nicht. Vielleicht ist es sinnlos, doch auch diese Sinnlosigkeit ist eine menschliche Erfindung. Und ich bin ja Mensch, und muss meinem Leben Sinn geben. Doch Sinn kann nur “unter den Füssen” entstehen. Ist vielleicht einfach Sinneserfahrung. Vielleicht wie der Baum, das Blatt, das “atmet”, oder das, das jetzt im Herbststurm wirbelt, und zu Boden gleitet.

PS: Küchenboden ist gewischt, Küche aufgeräumt, Kompost im Garten, Abfall und zu Reziklierendes entsorgt, und der Kaffee und das Frühstück vorbereitet. Die hungrigen Katzen gefüttert. Bin bereit.

Teil vom Bericht: "Der fünfte Monat"

1 Kommentar

noldi, 19. November 2020

spannender Prozess, nachdem sich eine sehr klare Entscheidung gefügt hat. und es geht weiter im PS, welches nicht nebensächlich erscheint, sondern in stiller Form das eigentliche nächste Kapitel einläutet!

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