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Die Blume und der Gehsteig 

16. Dezember 2020, Jürg Messmer

Welch ein Morgen! Das Morgengrauen inspiriert mich immer wieder. Und das nach einer Nacht mit kurzem aber tiefem Schlaf, eine Ausnahme in den letzten Wochen, während denen ich durch grosse Unsicherheiten, mit wenigen Gewissheiten wie der Hoffnung, oft reisend, immer wieder neue Wege habe finden müssen, in einer Welt mit Menschen, die sich vor dem Virus fürchten, das Corona heisst.

Heute Morgen schrieb mir eine Freundin aus der Schweiz einen Kommentar zu einem Text, den ich erst gestern sogar noch früher im Morgengrauen fertig geschrieben hatte. Ich hatte sie in einer Yogastunde kennengelernt, einem Ort, an dem ich vieles gelernt hatte, auch einfachste Dinge, wie mir Raum zu lassen. Der Text, auf den sie sich bezog, hiess "Absichtliche Gesetzeslücke?", in dem ich mich hilflos wütend über die Behandlung durch die Schweiz bzw. deren Vertreter beklagte, der mich wegen absolut strikten Regeln und mangels mitfühlender Vorstellungskraft vor die Tür des Hauses Schweiz gesetzt hatte. Ich fand mich ohne Krankenversicherung und ohne sichere Bankenregelung und ich fühlte mich sehr verloren, ich der Verwöhnte.

Heute Morgen schrieb sie mir, die Tania: "Mut ist, den Möglichkeiten mehr Beachtung zu schenken als den Zweifeln." Weiterhin guten Mut!

Vielen Dank, Tania! Du hast mich bereits inspiriert. Normalerweise hätte ich bei so einem Spruch meine Zweifel. Ich würde entgegnen, dass es nicht so einfach ist, weil die Besucher "Zweifel" ja eher unsensibel sind und nicht einfach gehen wollen, wenn es für mich an der Zeit wäre. Und ich kann einen Besucher nicht auf die Straße werfen, auch wenn dieser unangenehm ist. Ich bin ein schwacher Mensch, vielleicht auch zu freundlich, oder manchmal fehlt mir einfach die Urteilskraft, Gutes von Bösem zu unterscheiden. Ich bin ein verwirrter Mensch, wie ihr wisst.

Heute Morgen jedoch waren diese unangenehmen Besucher bereits von selbst verschwunden, und Hoffnung und Mut saßen neben mir, als ich aufwachte. Gleich dachte ich an die Blume der Phantasie und an den Gehsteig der Wertschätzung von Unterschieden. Ich dachte an die mangelnde Einfühlsamkeit von Beton und die kraftvolle Fantasie des Löwenzahns, einer Blume, die so stark ist, dass sie mit ihrer sensiblen Intelligenz und ihrer Sehnsucht nach starkem Sonnenlicht selbst den hartnäckigsten Beton durchbricht.

Ich bin froh, selber die Blume der Phantasie zu finden, die den Beton in meinem Kopf durchdringt, obwohl es manchmal schmerzt. Und ich hoffe, dass noch einige Züge in meinem Kopf anhalten werden, von  Orten, die Hoffnung oder Fantasie heissen. Und als Bahnhofsvorsteher werde ich diesen Zügen wenn immer möglich beim Einfahren und Anhalten den Vortritt geben, und sie mit Freude und Vergnügen auch eine Weile sich ausruhen lassen. Und ich werde die Produkte, die manchmal mit diesen Zügen ankommen, weiterleiten, damit sie den Weg zu anderen Orten finden können, die vielleicht auch dieser wertvollen Gaben der Fantasie und Hoffnung bedürfen.

Ich bin sehr zufrieden mit dieser manchmal anstrengenden Arbeit als Stationsvorstand, und ich werde so weniger durch die Besucher Zweifel und Verzweiflung gestört. Ich biete Ihnen den Platz, um den sie beten, und ich hoffe, dass sie bald wieder gehen, und versuche mich gar für meine Arbeit von ihnen inspirieren zu lassen. Das ist meine einzige Möglichkeit, ihnen die Kraft zu nehmen, um nicht gleich selber zu einem zu werden, der Zweifel und Verzweiflung streut.

Ein wichtiger Grund, warum ich nach Xela gekommen bin, sind die so unterschiedlichen Bürgersteige. Mit ganz verschiedenen Höhen und Breiten, und oft gut geignet, um zu lernen auf jeden Tritt zu achten. Ich bin ihnen sehr dankbar, dass sie mir den Wert auch des Unvollkommenen näher gebracht haben und hoffe, dass diese manchmal eben auch sehr hohen Gehsteige noch etwas unvollkommen bleiben dürfen, und nicht so schnell genormt verschwinden, damit sich auch ein reicher Langer und ein kleine Arme ohne Sorge fest umarmen können. Bürgersteige, die uns das manchmal bereits Vollkommenes im Unperfekten zeigen. Und uns über den Wert der Dinge, und deren Preis nachdenken lassen.

Ich denke oft an die Ängste und Sorgen, die wir Menschen haben, die uns gerade in diesen Zeiten des Coronavirus so sehr plagen, da wir in unserem so langen und doch so kurzen Leben noch nie von etwas so heftig berührt worden sind, und uns sehr bedroht fühlen. Immer wieder denke ich jedoch, dass dieser Alptraum geändert werden könnte, und merke, dass ich schon seit Langem sehr traurig darüber bin, was wir Menschen tun, mit unseren Händen und unserem Verstand. Und ich habe versucht, einen Ausweg aus diesem Konflikt zu finden, doch es ist mir bisher nie gelungen, und es wird mir klar, dass mein kleines Gehirn und meine eigenen Gedanken einfach dazu nicht ausreichen.

Aber seitdem ich meine Gedanken und die der Anderen genauer höre, habe ich erkannt, dass es nicht nur meine sind, sondern Gedanken, die wir ja alle teilen. Nur ordnen und erwägen wir sie eben etwas anders, jeder auf seine oder ihre eigene Art und Weise, entsprechend unseres jeweiligen Standpunktes. Aber dieser kann doch geändert werden, wir haben doch Beine, die uns das so reichhaltige Leben geschenkt hat! Ich hoffe, dass wir diese nicht nur dazu nutzen, um auf das Gaspedal unserer grossen Autos zu drücken, oder um in den Aufzug zu steigen! Dass wir sie auch nutzen, um uns zu wärmen, auch unsere Hände; indem wir vielleicht wieder ein wenig traditioneller arbeiten, anstatt nur Tasten zu bewegen, wie ich es jetzt mache, wie so oft aus Verzweiflung, oder auch aus Hoffnung. Ich bin dankbar, dass ich dabei wenigstens die Finger bewegen und der Fantasie freien Raum lassen kann.

Seit ich all diesen Stimmen zuhöre, wird mir immer klarer, dass wir vielleicht mit einer kleinen Vorstellung falsch liegen: der des Todes. Des Beginns und des Endes eines vielseitigen Lebens, wie wir Menschen es haben - versehen mit Hirn, Darm, Händen. und Füssen. Und ich sah, dass wir das Leben mit allem anderen im Universum teilen. Ich dachte an die  Bäume, die Pflanzen und die Tiere. Und ich begann zu verstehen, dass vielleicht auch sie ihrer Rolle in dieser Welt überdrüssig sind, und versuchen, gleich selber Mensch zu werden, im Versprechen von solch mächtigen Werkzeugen. Und mir wurde klar, dass es leider verständlicherweise nicht mehr Mode ist, das Leben eines Baumes leben zu wollen. Und ich wünschte mir von Herzen, ich könnte diesen so grossen Konflikt besänftigen helfen, und Gott bitten, mir das Leben eines Baumes zu schenken.

Aber gleich fühle ich eine grosse Traurigkeit, weil ich so vieles in Gedanken bereits verloren sehe, und so bitte ich Gott, einen Platz für mich zu finden, wo meine Arbeit als Baum auch geschätzt wird. Und dass sie zwischen meinen starken Wurzeln sitzen könne, geschützt unter meinen Ästen voller grüner Blätter, je nach Jahreszeit und Wetter mit Farben spielend, und dass sie dann ganz nah bei mir weinen könne und grossen Trost darin finde, dass nichts verloren gegangen ist, sondern nur verändert wurde, um das Leben zu offenbaren und lebendig zu halten, damit die Idee der ewigen Liebe, die sich auf so viele schöne Weisen zeigt, sich immer wieder erneuern kann.

Und ich finde Trost und Freude an dieser Idee. Mehr noch, weil ich gehört habe, dass Bäume über viele geheimnisvolle Austauschmöglichkeiten verfügen, mehr als wir wissen, und deshalb könnte ein Baum in der Schweiz auch einen alten Freund grüssen, der mich vermissen würde, ich könnte ihm gar eine Botschaft schicken durch die geheimnisvolle Post von Wurzeln und Pilzen, auch von Erde und Wasser, und durch die Luft und mit dem Wind. Und die Sterne, die alles dabei ruhig überwachen. Und ich hoffe, dass auch die Sterne wieder intensiver leuchten und pulsieren. Selbst ich schaue nicht mehr so oft hinauf, nicht nur wegen meiner Augen, die getrübt vom Rauch und Schmutz des Werkes unserer Hände sie nicht mehr sehen können, sondern auch wegen meines oft verwirrten Geistes. Ich hoffe, dass es bald besser läuft unter diesem Himmel, der hier so nah ist auf dieser Hochebene von Guatemala. Nahe am Feuer von Mutter Erde.

Doch ich bitte auch darum, dass "Er" mich als Mensch noch ein wenig länger leben lasse, dass ich mit diesen hoffnungvollen Gedanken auch andere inspirieren kann, ob Menschen oder Bäume, und deshalb allen Wesen etwas dienen könne, um aus diesem Konflikt herauszuwachsen, der seit langer Zeit ja bereits besteht, vielleicht seit Gott die Idee des Menschen zu denken begann, als weiser Herrscher einer Welt vieler Wunder, weil er einen Weg suchte, nicht nur das Schöne zu erschaffen, sondern es auch als solches erkennen zu können. Und jedes Mal, wenn ich den Namen Zeugen Jehovas höre, denke ich an den Zeugen Gottes, und es scheint mir ein guter Name für den Menschen zu sein. Zwar ist dies nur ein Name, doch fühle mich oft als Zeuge dieses lebendigen Mysterium, auch wenn ich es wohl nie verstehen werde. Doch ich habe das Vertrauen, in mein Gehirnsel, weil es Teil eines viel grösseren ist. Vertrauen in meine Füsse und meine Hände, dass sie Dinge tun, die im Einklang mit diesem Willen geschehen, des Einen, den ich nicht kenne, doch den ich immer in allem wieder finde, was ich sehe, höre und dabei fühle.

Ich denke, das ist das Einzige, was wir Menschen tun können, auf unsere Art unsere Händen mit Herz und Verstand verwenden, denn sie sind immer auch die Hände, Verstand und Herz Gottes. Dem grössten Diener, wenn auch vielleicht eine grosse geheimnisvolle Leere, die wir mit Sinn füllen.

Danke, Guatelinda, dass du mich so inspirierst. Und Gott sei Dank, und Dank den Blumen und Gehsteigen von Xela.

PS: Ich denke oft, dass das Universum ein immenses Theater ist, eine mysteriöse Bühne. Ich kann es zynisch betrachten, als gebildeter Reicher, oder meine bescheidene Arbeit zu schätzen wissen, und jeden Tag das Holz der Bühne sauber putzen. Spielt es eine Rolle? Es ist ein grosser Tanz, und ab und zu werden wir unserer Arbeit überdrüssig und bitten darum, unsere Rolle im großen Theater wechseln zu können. Und wir sind dankbar für den Tod und den Abschied durch das Sterben, wie wir es nennen. Etwas, das sich nur der Mensch ausdenken kann, weil er die Geheimnisse der Veränderung schon fast hat, ob all seiner wilden Gedanken. Das es manchmal scheint, als hätten wir den Kontakt zu RegisseurIn dieses grossen Theaters verloren, und ich hoffe, dass wir unsere Vorstellungskraft, die Tochter der Hoffnung, noch nicht ganz vergessen haben, und sie nutzen, ohne sie nur in Rauch und Beton umzusetzen, und zu sichern, was nicht gesichert werden kann. Denn jede Versicherung verstärkt nur die seltsame Vorstellung eines Todes.

Es lebe die Hoffnung, es lebe die grosse Vorstellungskraft, und es lebe die Einsicht, dass wir diese Welt teilen. Mit unseren Händen, ob sie fest oder schwach sind, mit unserem Verstand, ob er nun stark oder begrenzt erscheint. Und mit unseren Herzen. Sie sind alle von Gott, wie ich es nenne. Wir alle teilen, woher wir kommen und wohin wir gehen. Das ist das einzige, was sicher ist. So glaube ich das wenigstens.

PS2: Ich bin sehr dankbar für die elektronische Kommunikation, erst recht in diesen Zeiten, aber ich möchte an die Fülle von Austausch-Möglichkeiten erinnern. Auch mit Gott, was oder wer immer das für dich ist. Weil wir alle sowas wie Gottes Kinder sind, und Eltern immer auf ihre Kinder hören, auch wenn es ab und zu nicht so scheint. Sogar im Selbstgespräch hat Gott seine Ohren offen. Er hat viele Ohren, nicht zu letzt auch die unsrigen.

PD3: Ich sitze im Garten und rauche, und beobachte dabei diesen Kolibri, der von einer Blume zur anderen fliegend hüpft. Und ich denke an die Fledermaus, die sich in der Krone des grossen Baumes inmitten dieses kleinen gepflegten Paradies regelmässig ausruht, und auch tanzt. Und an die kleine grau-weiss getigerte Katze, mit kräftig grau-weiß gestreiftem Schwanz, ein schönes selbstsicheres Tier, das eben grad durch die Büsche gestreift ist, um dann den Baum hinaufzuklettern, und auf das Dach rüberzuspringen, und anderswohin zu verschwinden.

PS4: Dies ist erste Text, den ich auf Spanisch geschrieben habe, seit ich mein Geburtsland vor einem halben Jahr verlassen habe. Es ist schwierig, einen spanisch gefühlt und geschriebenen Text ins deutsche Denken und Fühlen zu übertragen. Als wären es Welten. Das Übersetzen hat mich sehr angestrengt. Ich kann nun auch die Herausforderungen von Diplomatie und internationaler Kommunikation viel besser verstehen, auch dass sich manche es damit auch einfach machen. Hier der Link zum Original: "La flor y la acera".

Passendes, seit langem bekanntes, Buch von Eduardo Galeano:
"Die offenen Adern Lateinamerikas".
Nun verstehe ich auch den Titel auf schmerzhafte neue Weise viel besser.

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