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Vom Regen in die Traufe 

18. Juni 2021, Jürg Messmer

Wenn ich jetzt fast täglich unter Kälte und Regen leide, dann frage ich mich manchmal schon, ob ich jetzt das eine Übel durch ein noch grösseres eingetauscht habe! Doch ich verliess die Schweiz ja nicht, weil da schlechtes Wetter war, im Gegenteil. In den letzten Jahrzehnten ist es in Mitten Europas ja immer wärmer und schöner geworden; im April regnete es oft nicht mehr, und auch im Februar sass ich öfters auf der Terrasse, weil mich die Sonne bereits so wärmte, dass ich im T-Shirt draussen sitzen und rauchen konnte.

Dass Guatemala ein kaltes Land sein könnte, das hätte ich nie gedacht. Ist es ja auch nicht überall, sondern vor allem hier auf dem Altiplano, in Xela, und insbesondere in diesen alten Post-Kolonialen Gemäuern. Also genau da, wo ich jetzt bin. Dass die Nächte auf 2300 Meter über Meer - so viel näher beim Äquator - kalt sein können, das wusste ich, doch dass der "Sommer" hier zu Recht "Winter" genannt wird, das hatte ich mir schlicht nicht vorstellen können.

Natürlich könnte ich weiterziehen, an einen Ort, der wärmer ist, und an dem die kleinen Leiden meiner Gelenke nicht so in den Vordergrund drängen würden. Doch wegen dem meteorologischen Wetter bin ich ja nicht hierher gekommen, schon eher wegen dem geistigen. Mit offenen Widersprüchen lebe ich einfacher.

Es ist nicht so, dass die Guatemalteken geistigere Menschen wären als die Schweizer, doch die Schweizer haben sich in eine Situation hineinmanövriert, oder sind da hinein geraten, aus der nur schwierig herauszufinden ist. Welch goldener Käftig, welcher Reichtum, ja Luxus, inklusive einer perfekten Organisation des täglichen Lebens, die schon einmalig ist. Diese zentrale Lage mitten in Europa, diese "Willensnation" (Selbsteinschätzung), die aus "Deutschen", "Franzosen" und "Italienern", noch ein paar Romanen und heute noch einigen Zugewanderten besteht, ist schon aussergewöhnlich. Die durch das gemeinsame so erfolgreiche Gotthard-Projekt (heute das globale Finanz-Logistik-Projekt) da zusammengeschweisst fast in Ruhe ihrem täglichen Leben nachgehen können. Ja, ohne der Gotthard wäre die Schweiz eine andere. Denn dem Gotthard und der zentralen Lage, haben die Schweizer die Neutralität, langen "Frieden" und den Reichtum zu verdanken.

Gott sei Dank bin ich kein Historiker und kann schreiben, was ich will, denn ich schreibe ja nur über mein erstes Jahr nach meiner Auswanderung aus der Schweiz nach Guatemala.

Warum ich nach Guatemala gekommen bin, ist ja eine komplexe Frage. Es sind alte Fäden, die sich da mit aktuellen Situationen verbunden haben. Vor ein paar Jahren war ich pensioniert worden oder hatte mich - vom schnellen Wandel überfordert - aus dem Verkehr gezogen, ordnete wie so oft meine Sachen, und fragte mich, was jetzt auf dieser Welt (für mich) noch zu tun wäre, ausser jeden Monat auf die Pension zu warten, und das Geld zu zählen, und mich immer wieder zu fragen, für welches Leben es jetzt noch bis zum Schluss reichen würde.

Die Vorstellung, dass ich nun, ohne Arbeit, weiterhin immer wieder in die Berge, nach Einsiedeln, Wädenswil und Zürich, nach Bern, Biel oder Murten, in den Tessin, oder wo auch immer reisen würde, um Menschen zu besuchen, denen ich etwas Gemeinschaft abringen könnte, war keine schöne. Immer reisen, immer unterwegs sein, das gefiel mir nicht. Seit Jahrzehnten hatte ich bereits Lebensformen gesucht, die mich nicht mehr auf die Schiene zwingen würden. Doch ich fand sie nicht. Nur zwei, drei Mal im Jahr fand ich für eine Woche Gemeinschaften, die durch die Liebe zu den Bergen und gemeinsamem Kochen und Leben für eine Woche zusammenfanden. Es war immer traurig, aus so einer Woche wieder in meine Wohnung zurückzukehren.

Was das Schwierigste für mich war, ist, dass das, was die meisten Leute in der Schweiz interessiert, mich nie interessiert hat. Eine schönere Wohnung, ein schöneres Haus, Ausgang im guten Restaurant, den neuesten Film, und ab und zu in die Ferien, oder eine Städtereise. Mit dieser Freiheit konnte ich einfach nichts anfangen. Ich verstand sie natürlich auch, doch ich war allein, und für mich alleine ein Nest zu bauen, das machte schlicht keinen Sinn. Und gemeinsam als Paar, nein, auch das hatte ich nie geschafft, denn auch was eine "Beziehung" ist, das habe ich ja nie verstanden. Eine grössere Gemeinschaft, ja, aber wie? Keine Lösung in Sicht, also machte ich mich auf, zu sterben. Doch auch das ein Projekt, das nicht so einfach ist, schwieriger als manche denken. Nicht einmal die Maske abziehen oder sich nicht impfen lassen machen das sicherer, obwohl viele Leute das heute ja glauben, oder befürchten.

Ich begab mich also auf Abschiedstour, Farewell 2019. Ich wollte Anna nochmals besuchen, die fünf Jahre zuvor aus meinem Leben verschwunden war, und sich in ihre Heimat zurückgezogen hatte. Natürlich kam mir dabei auch in den Sinn, nochmals Guatemala zu besuchen. Doch ich wollte nicht noch einmal dahin gehen, ohne genau zu wissen, was ich da machen würde. Ja, ich wusste, da war Vivian und Xela, wo ich mich immer wohl gefühlt hatte, weil es viel zu lernen gab, und sich das Leben als Tanz anfühlte. Jedoch war ich immer wieder gegangen, und das wollte ich nicht mehr wiederholen. Also liess ich den Gedanken fallen, und dachte nur an Anna, und ging dahin. Wir waren immer noch - vermutlich etwas einseitig - verbandelt, doch wollte ich Klarheit schaffen, und dachte zudem, vielleicht kann ich noch von Nutzen sein, ihr helfen, dass sie ihren Wunsch erfüllen kann, ein eigenes Haus zu bauen, ein alter Traum.

Ins Flugzeug steigen wollte ich nicht. In der Zwischenzeit hatte ich ja gelernt, dass ich es liebe zu reisen, dass mein Leben eine Reise ist, doch einen Schritt nach dem anderen, mit offenen Plänen. Das schnelle und in sich geschlossene Reisevorhaben hatte mir nie gefallen. Ich wollte einfach laufen, immer weiter, wie Nomaden oder auch Giraffen das eben machen. Auch noch in meinem Alter, denn auch das mit dem Alter und dem Jubilieren, das hatte ich nie begriffen. Dass man sich jetzt "verdientermassen" zur Ruhe setzen könnte, das verstand ich nicht. Den "Unruhestand" verstand ich da schon besser. Mein ganzes Leben lang hatte ich nach Sinn gesucht, und immer nur gefunden, dass ich "gebraucht" werden möchte, dass jemand mich braucht. Dass ich von Nutzen sein könnte. Mein Leben lang bin ich an der Idee gescheitert, dass man sich selber genügen müsse. Das genügt mir eben nicht.

Schliesslich bin ich also doch in Guatemala gelandet. Einfach weil ich, als ich in den USA war, nochmals Kraft gefunden hatte, den Weg hierher zu machen, ohne genaueres zu wissen. Bei Anna hatte ich nochmals entdeckt, dass ich immer noch Energie habe, um im Leben mitzumischen, auch wenn der geheime Traum, da in Michigan vielleicht doch noch unerwarteter Weise einen Lebensraum zu finden, nur den Sinn gehabt hatte, mich weiterzutreiben, um zu merken, dass mein Lebensort da ist, wo ich bin. Wo auch immer. Auch wollte ich kein Auto (oder Generalabo) haben, nicht an einem Ort leben, an dem ich wiederum viel herumfahren müsste, um Leute zu besuchen und für ein paar Stunden Gemeinschaft zu finden. Das machte keinen Sinn. Ich fand also die Energie, mich nochmals in eine ungewisse Zukunft zu begeben, ein Risiko gab es nicht.

Es hat sich gelohnt. Nein, nicht wegen des Regens. Und trotz der Traufe. Das wesentlichste, was sich geändert hat: ich lebe hier an einem Ort, kann alles zu Fuss gehen. Stolpersteine gibt es genug, die für Abwechslung sorgen. Ich brauche kein Auto, kein Generalabonnement, und auch keine Krankenversicherung. Denn dass ich sterben werde, das ist mir klar, soweit mir Sterben überhaupt klar sein kann. Also auch ein Pensionierten-Leben mit häufigem Gesundheits- und Medikamentenkontrollen, nein, das ist nicht meine Sache. Ich lebe, ich erfahre, also bin ich gesund, wer sonst soll denn das bestimmen. Ich möchte nicht als modernes Kanonenfutter enden, wenn schon, dann ganz klassisch, im Kampf, als klassisches "Kanonenfutter" im Dschungel des Lebens.

Dass das Leben immer noch ein Dschungel ist, das habe ich nur langsam, doch spätestens seit diesen Covid-Zeiten, begriffen. Warum Menschen immer noch denken, dass wir heute einen zivilisatorischen Stand erreicht hätten, auf den wir stolz sein und auf den wir weiter bauen könnten, das geht mir nicht in den Kopf. Offensichtlich zu klein dafür, mein Kopf.

Doch auch wenn ich an Gesundheitssysteme denke, muss ich zugeben, dass ich vom Regen in die Traufe gekommen bin. Die Sucht nach Medikamenten, nach schnellen Lösungen und nach Komfort, ist auch hier sehr gross. Natürlich vor allem in den Städten. Vielleicht sogar extremer, oder mindestens deutlicher, weil diese "Gesundheit" oft teuer und fast ausser Reichweite ist, das macht sie noch attraktiver. Es treibt mich manchmal zur Verzweiflung, wenn auch hier Gesundheit mehr und mehr eine Frage ist, wie man den Körper reparieren könnte, Beschädigtes ersetzen und Fehlendes hinzufügen könnte, ohne damit etwas zu tun zu haben. Dass Gesundheit eine Frage sein könnte, die den - insbesondere einzelnen - Menschen übersteigt, das ist auch hier in Vergessenheit geraten. Dieser Fortschritt ist wohl kaum aufzuhalten.

Ein weiterer Fall von "vom Regen in die Traufe" scheint auch die Tatsache zu sein, dass ich früher, verwöhnt wie ich war, nie Schlüssel auf mir tragen musste. Meine Türen waren immer offen, und meine Taschen leer, wenn man mal vom Geld, Kreditkarte oder ÖV-Abo absieht, von Tabak und Feuerzeug. Jetzt nenne ich bereits drei Schlüssel mein "eigen", was mich erst mal sehr betrübt hatte. Dafür bin ich um ÖV-Abo und Kreditkarte erleichtert. In der Zwischenzeit habe ich mich damit abgefunden, fast schon freudig, dass ich nun Gefängnisse wieder mit einem richtig Schlüssel, und nicht nur in meiner Fantasie, öffnen kann. Wie einfach. Doch selbst die Schlüssel und Schlüssellöcher, sind etwas komplizierter hier. Es braucht also Feingefühl, die Ungeduld will eine neue Form finden.

Es gibt viele Menschen hier, die nicht "arbeiten", aus unterschiedlichsten Gründen, das ist für einen emsigen Schweizer, daran gewöhnt, die Welt zu erobern, oft nur schwer verständlich. Doch ein Grund dafür ist, dass hier das Leben weniger an der Aktivität, am Arbeitsstatus und am direkten Nutzen gemessen wird. Zudem sehe ich es eigentlich nicht, dass die Leute faul sind, auch wenn ich grad gestern im Tanzsalon dieser Aussage zugestimmt hatte. Doch nein, es stimmt so nicht. Sie sind nicht faul. Oft sehr bereit zu helfen, grad das zu machen, was sich eben aufdrängt. Improvisation ist alles. Schulden und offene Rechnungen sind Teil des Lebens. Sie werden sich irgendwie wieder ausgleichen, oder wandern, von einem Ort zum anderen. Ja, Geld kann helfen, doch wenn es keines gibt, dann geht es auch. Von der Hand in den Mund leben, ist keine Schande, und das verstehe ich gut, auch wenn ich es des Geldes wegen fast nie habe machen müssen. Doch lebe auch ich von der Hand in den Mund. Wir machen es alle, auch in der Schweiz, nur ist das eben da ein wenig in Vergessenheit geraten. Ob all der Sicherheit. Doch auch Sicherheit verändert sich ja immer.

Mein Leben lang habe ich die Liebe gesucht, und in der Zwischenzeit ja gemerkt, dass diese Suche selbst die Liebe ist. Doch vor lauter Wörter wie "suchen", oder doch besser gleich "finden", ist das schwierig zu begreifen. Doch was soll man denn in der Zukunft finden, wenn es nicht bereits da ist? Was nicht ist, kann nicht werden. Ohne Saat geht nichts. Und die Saat ist das Leben, ist unser jeder Schritt, jeder Atemzug. Jede Taste, die ich drücke.

Am Montag muss ich wieder mal in die Hauptstadt, um zu sehen, was mit meinem stagnierenden Residenzantrag nun Sache ist. Auch dies ist ein Weg mit unbekanntem Ausgang. Es ist eben nicht einfach so, dass, weil ich Geld habe, diesem Antrag schneller statt gegeben würde. Geld spielt keine solch grosse Rolle, auch wenn es für viele das Wichtigste scheint. Vermutlich könnte ich einen Anwalt anstellen, um diesen Prozess zu beschleunigen. Doch wenn dieser beschleunigt würde, dann müsste ich ja auch schneller wieder einen anderen Schritt bestimmen, und der kommt bestimmt. Also einfach laufen, wie immer. Schritt um Schritt. Das ist mein stimmigstes Abenteuer.

Im Herbst gehe - oder komme - ich in die Schweiz. Ja, sicher, meine Familie besuchen, meine Brüder, die mich seit Anbeginn, seit unserer Empfängnis, begleitet haben und wir dann unseren 70. Geburtstag zusammen feiern. Auch meine Freunde, wenn sie mich sehen wollen, welche genau, das werde ich sehen. Meine Zeit wird beschränkt sein, deshalb besser ohne allzu viele Pläne. Ob geimpft, auch das weiss ich nicht. Vielleicht wird selbst das noch eine Herausforderung, weil ich ja auch zu Viruszeiten immer noch auf Vielfalt bestehe. Und da ist nun mal auch Einfalt, oder Dummheit, inbegriffen.

Auch an diesem Morgen ist es sehr kühl, noch unklar, ob heute mal wieder die Sonne scheint. Ich werde mich mit Vivian in der Schule treffen, um zur Abwechslung mal wieder einen spanischen Text, bzw. eine Übersetzung, zu überarbeiten und dann zu veröffentlichen, einen kurzen, "Punkt und Komma", bevor wir dann in ihre neue Wohnung gehen, um etwas aufzuräumen, so dass Willi, ihr Bruder, in Ruhe putzen und wir dann gegen Ende Monat ihre Sachen zügeln können. Ein grosser Schritt, wenn auch ein vermutlich kleiner für die Menschheit. Bald muss ich gehen. Ich bin ja der Commandante, sie die Guerrillera. Mal schauen, welchen Weg sie mir weist.

PS: unter Wikipedia findet man zum Wort Traufe nicht allzu viel. Interessant scheint mir, dass Traufe "umgangssprachlich für eine Hochzeit (Trauung) mit gleichzeitiger Taufe eines Kindes" steht.

PS2: Am Text "Punto y coma" haben wir schliesslich nicht gearbeitet. Es gab genügend Möglichkeiten, Kommas und Punkte im Leben zu setzen. Guatemaltekische Interpunktion hat seinen eigenen Rhythmus.

Lied: "Hoy" (mi norte y mi sur), Gloria Estefan

 

 

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