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Pubertärer Tanz 

16. Juli 2021, Jürg Messmer

Vivian bat mich einmal, über Tanz zu schreiben, doch ich hatte immer etwas gezögert, weil ich befürchtete, dieser Text könnte etwas allzu persönlich und peinlich werden.

Meine Tanzkarriere hatte ja mitten in der Pubertät begonnen, als ich so mit 16 - wie andere aus gutbürgerlichen Kreisen - in die Tanzschule Kaiser ging, um mich da gepflegt tanzend auf das Leben vorzubereiten, so wie ich auch in den Konfirmationsunterricht ging, den ich vermutlich damals mit einem Ungenügend abgeschlossen hätte, hätte es denn solche Bewertungen gegeben.

An Walzer, English Waltz, und Jive kann ich mich gut erinnern, auch Fox Trott und, war es Rumba oder Pasa Doble, oder beides? Am liebsten hatte ich den langsamen Tanz mit diesem gleichalterigen Mädchen, den wir im Rahmen eines Abschlussabends im Schummerlicht tanzten. Tanzen, ja das war es auch, doch vor allem waren es meine Hände, die durch ihr dünnes Kleidchen ihre Haut berühren durften.

Ich war in der Pubertät, und einige Jahr später an der Universität, lernte freudig anale, orale und genitale Phasen der jungen Menschlichkeit kennen, hörte von Latenz, und spürte immer noch die da auch verhandelte Pubertät. Was danach da noch kommen müsste, das weiss ich nicht mehr so genau, denn in der Adoleszenz bin ich vermutlich stecken geblieben.

Ehrlich gesagt habe ich es nie ganz begriffen, was Erwachsensein denn bedeutet, und weniger noch, was dessen Nutzen denn sein könnte, weder Punkto dem eigenem Leben, noch dem der Anderen, oder dem für die Gemeinschaft. Also der Nutzen des Schrittes vom Leben zum Verwalten desselben, um damit Verantwortung dafür zu übernehmen. Für die Gemeinschaft, oder wie all diese Wörter so heissen, die einem da künftig um die Ohren fliegen würden.

So schaffte ich es gezwungenermassen auch nicht, später als Psychologe zu arbeiten, denn da lief ich nur Gefahr, mir die Finger zu verbrennen, die immer noch nicht genau wussten, was sich gehörte und was nicht. Mein Vater hatte ja vermutlich Recht gehabt, als er sagte, dass die Psychologie einfach eine etwas verfeinerte Rechtswissenschaft sei, doch nicht wirklich etwas Neues und Anderes. Ja, das habe ich dann immer mehr begriffen, oder besser gesagt, einfach vergessen.

Also musste ich mich weiterhin mit dem Besten alles Schlechten begnügen, dem Versuch, Menschlichem Leben eine Ordnung abzuringen, die dann eine bessere sein könnte, als die von Gott geschaffene. Doch nicht einmal die Regeln der von Gott geschaffenen Welt kannte ich, und würde diese auch nie verstehen. Darum bin ich auch immer noch am lernen, und daraus ist ein Weg entstanden, ohne mich für mehr entscheiden zu müssen, als für den nächsten Schritt, und auch Stolpern bringt da immer eine Lösung. Von Lösungsmitteln spreche ich nicht.

Das Tanzen eine Lösung sein könnte, das wusste ich noch nicht, doch meine Grundlagen waren hervorragend, denn ich war zwar erstmal ein stilles Kind gewesen, doch irgendwann konnte ich nicht mehr still sitzen, und wenn ich etwas später geboren wäre, dann hätte man meinen Fall vermutlich mit Ritalin in ruhigere Bahnen lenken können, und ich hätte nicht wegen einem als bipolare Störung diagnostiziertem Missverständnis soviel Zeit in der Psychiatrie verbringen müssen. Doch dabei hätte ich wiederum etwas verpasst, sozusagen meinen Club Méditerranée, in dem ich schamlos um zwei Uhr Nachts "eine schrecklich nette Familie" schauen konnte, ohne dass jemand diese Scham von mir erwartet hätte. Also bipolar ist mir immer noch lieber als ADHS. Es wäre jedoch vermutlich einfach etwas anders gewesen, und vielleicht nicht minder interessant. Vermutlich hat Erwachsen werden doch mit Entscheiden zu tun, werde ich es noch erlernen? Ich meine, zu entscheiden, anstatt die Entscheidungen nur fallen zu lassen?

In den 70igern und 80igern hatte ich schon auch getanzt, doch das war eher so Disco, ohne allzu viel Hautkontakt, was auch seine Vorteile hatte, denn ich war scheu, und wusste nie, ob ich es jetzt richtig mache. So richtig Freude kam bei diesen Tänzen nicht auf, wenn auch mal ab und zu so was wie Trance, wie man es später nannte, als es offiziell also solche erkannt und anerkannt worden war.

Erst als ich 1999 nach Guatemala kam, begann ich wieder zu tanzen, doch oft war es ein Stress, und Stress ist es bis heute manchmal geblieben. Schadet Stress? Auch darüber wird ja immer wieder gestritten, und auch da habe ich bisher noch keine endgültige Antwort darauf gefunden.

Eines meiner grössten Probleme ist, dass ich geliebt werden möchte, und das erst noch so wie ich bin. Eine gute Basis für das Tanzen lernen, so scheint es mir wenigstens. Geliebt werden zu wollen, ist natürlich etwas kindisch, denn lieben ist die Antwort, so weit ich es verstanden habe. Also musste ich den Tanz zwischen dem, das ich kann (geliebt werden) und dem was ich nicht kann (lieben), erlernen. Doch wie lernt man etwas, was man nicht kennt, also auch nicht weiss, was es da genau zu erlernen gibt. Zudem wollte ich immer gleich alles bereits können, denn Geduld ist nicht so meine Sache, denn ich hatte ja keine Ahnung, was denn Tanzen mit Geduld zu tun haben könnte. Hat es ja auch nicht, oder doch? Geduld lernen war für mich in etwa so, wie die Pubertät hinter mich zu lassen, denn da wusste ich einfach nicht, was denn da noch kommen würde.

Ein Haus bauen? Und das auf Sand? Na ja, etwas anderes gibt es ja kaum noch. Der Sand wird ja heutzutage in unzähligen Schiffsladungen herangeschafft, um daraus Beton zu machen, oder See- und Flussufer, oder Luxusbäder zum Bade einladend zu machen. So ziemlich alles scheint auf Sand gebaut. Im Westen zumindest also nichts Neues. Für den Süden nicht viel anders. Immer noch Pubertät. Wie es anders sein könnte, das habe ich bis heute nicht begriffen.

Also blieb ich beim Tanz, ohne zu wissen, dass ich das machte. Erst heute weiss ich es genau. An Ort, im Kreise, und das wenn möglich mit Freude. Doch mit der klappt es auch nicht immer. Denn ich will es immer noch richtig machen.

Seit ich wieder hier in Guatemala bin, gehe ich wieder in die Tanzstunde zu Erika. Diesmal habe ich Excel-Sheets vorbereitet, um mir die Schritte und Details genau aufzuschreiben, so dass ich mich jederzeit daran erinnern, oder es wieder nachlesen kann. Das hilft, wenn auch nicht viel, denn beim Tanzen kann ich ja kaum mein Excel-Sheet in den Händen halten, und gleichzeitig noch die Haut unter dem Chiffonkleidchen spüren. Und zudem bin ich bald 70 Jahre alt, und will mich natürlich auch nicht lächerlich machen. Die Leute vom Nutzen eines alternden Pubertären zu überzeugen, das ist und bleibt eine anspruchsvolle Sache.

In der Zwischenzeit nützt es mir nicht mehr so viel, mit Erika zu tanzen, denn sie macht alles richtig, so dass ich es kaum falsch machen kann. Ich muss also mit Frauen tanzen, die es noch nicht richtig machen, doch dabei darf ich nicht einmal denken, dass diese es nicht richtig machen könnten, denn wenn ich es richtig machen würde, dann könnten sie gar nicht anders, als es richtig machen. Das weiss ich inzwischen. Ob es anders herum auch sein könnte, das werde ich wohl nie mit Bestimmtheit wissen.

Erika lässt mich nun auf alle Frauen los, doch ab und zu vermute ich, sie verschone einige, die es bereits richtig machen, so dass sie meine schweizerische Gründlichkeit, in Kombination mit einem schlechten Gedächtnis und mangelnder unendlicher Leichtigkeit, nicht ertragen müssen. Oder weil diese vielleicht schlicht und einfach mit einem jüngeren Partner tanzen wollen. Denn die suchen natürlich etwas anderes, sonst wären sie nicht in den Tanzunterricht gekommen. Also verschont Erika wohl auch mich. Sie ist ziemlich wach.

Es stimmt, ich tanze lieber mit der einen als mit der anderen, doch trotzdem möchte ich gerne mit allen tanzen können, auf verschiedenen Bühnen, sozusagen. Doch das ist schwierig. Denn da ist auch Vivian, mit der ich auch sehr gerne tanze, doch es auch nicht immer einfach ist. Denn sie ist vermutlich meine grosse Liebe. Genau weiss ich das nicht, denn aus dem Grossen wird schnell mal was Kleines und umgekehrt, so dass ich vorsichtig bin. Obwohl ich nicht einmal zur Vorsicht tauge, ich sehe die Dinge ja erst, wenn ich meine Nase daran blutig schlage. Das liegt vermutlich an der Pubertät, am Unverständnis dafür, wie ich für eine Zukunft sorgen könnte, wenn ich nicht einmal die Gegenwart richtig kenne.

Manchmal scheint es mir eher so als müssten die Worte tanzen lernen, damit man den Tanz auch im Körper nachvollziehen kann. Doch bei solchen Gedanken wird es mir dann schwindlig, und ich muss mich setzen. Und ich weiss nicht, ob nun mit meinem Kreislauf etwas nicht stimmt, ob ich nun doch bald Aspirin Cardio nehmen müsste, damit ich während dem Tanz nicht umfalle, und dann anderen unnötig Sorgen bereite.

Neuerdings haben wir begonnen, Bachata zu tanzen. Rhytmus-Wechsel, sinnlicher, mehr Hautkontakt, und Abwechslung, die auch dem Salsa-Tanz zu gute kommt. Und hoffentlich auch den Frauen, die mit mir tanzen, und der einen. Und Cumbia. Doch mit der Cumbia Real habe ich noch meine liebe Mühe, die erinnert mich an die Volkstänze in den Festzelten, denen ich als moderner Junge nichts abgewinnen konnte. Doch vermutlich werde ich den auch noch lernen, denn der kommt wiederum anderen Tänzen zugute. Doch genaueres weiss ich noch nicht. Also vorerst Bachata, und immer wieder mit Salsa. Auch Salsa verde o roja.

Zur Zeit bin ich zum Tanz-Assistenten aufgestiegen, dies vor allem, weil ich öfters der einzige Mann bin, der zur Verfügung steht, und der mit Erika schon 6 Bachata-Kombinationen erlernt hat, die ein Grundgerüst bilden, das jetzt natürlich noch mit Fleisch und Blut bestückt werden muss. Also Verzierungen sind gefragt, und der Schwung mit der Hüfte, auch die ihren. Meine Voraussetzungen für den Hüftschwung sind gut, denn an Beweglichkeit fehlt es mir grundsätzlich nicht. An lateinamerikanischem Blut schon eher. Das ist jedoch schwierig zu erlernen, denn die Lateinamerikaner haben zwar oft etwas Mühe, ihre verstreuten Samen dann auch weiterhin zu begleiten, doch das macht sie natürlich interessanter. Sie müssen ja dann nicht an den letzten Samen denken, sondern können einfach die Hüften schwingen. Das klappt bei mir (noch) nicht so richtig, denn ich möchte es gerne richtig machen. Doch das ist scheinbar falsch. Also versuche ich auch, es falsch machen zu können, doch das eben hoffentlich doch richtig. Diesen Tanz tanze ich weiter.

PS: Was für das Tanzen hilft ist auch die Gemeinschaft. Immer schon hat es mir gefallen, wenn jung und alt, oder bekannt und fremd zusammen tanzen. Die speziellen Tanzlokale, an denen nur gute Tänzer eine gute Falle machen können, haben mich immer gestresst. Und dass solche Orte in der Schweiz, wo Spezialisierung und Gründlichkeit ja wesentlich weiter entwickelt sind, noch verbreiteter sind als hier im Süden, liess mich die Schweiz verlassen, damit ich an einem Ort der weniger gründlich ist, mit meiner doch unvermeidlichen Gründlichkeit trotzdem noch brillieren könnte. Das Problem ist nur, dass ungründliche Leute Gründlichkeit nicht erkennen und schätzen können. Darum bleibt mir nichts anderes übrig, als weiter meinen Tanz zu verbessern. Und das mit hoffentlich neuer Gründlichkeit.

PS2: Auch die Welt möchte ich gründlich verändern, doch wie weiss ich noch nicht. Meine Wünsche sind bescheiden: suche den Ort, wo ich mich zum Affen machen kann, ohne gleich lächerlich zu wirken. Vielleicht habe ich den ja auch bereits gefunden :-)

PS3: Nachdem ich diesen Text ein paar Mal wieder gelesen habe, erscheint es mir als habe die Welt der Bürokratie endgültig erfasst. Mein Ausweg: Einfach weitertanzen.

It's only words", Bee Gees (Smile an everlasting smile)
Wie oft "fremder" Inspiration zu verdanken (W. :-) "

Weiterführende Links (Wie finde ich da meinen Platz?)
Salsa lineal? "Sexy Salsa Dancing at Night Club"
Bachata? (mögliche Herausforderungen): "Bachata Sensual" - Axel and Maria - fusion zouk 2017
Cumbia Real? "Cumbia del Monte" - Desafina2 de la Cumbia ft. under side 821
Salsa cubana? "Sensual" (Jorge Camagüey + Doris Martinez)
Weitere Bachata Möglichkeiten? "Ofir and Ofri & Maychael and Mayra" (Solle mal bis am Ende schauen)

Bild: danke an Meme, ich hoffe die Verwendung ist nicht illegal.

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