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Der Blutende Spiegel des Don Quijote 

22. Dezember 2020, Jürg Messmer

Ich liebe klare Titel, fast besser noch mit etwas Blut verschmiert. Der Bub hat ja doch noch einiges gelernt, dank Jahren der Arbeit in den Medien, in die der lernbegierige Autodidakt und Abenteuerlustige sich dank purem und sehr glücklichen “Zufall” ja mal in jungen Jahren verirrt hatte. Ja, manchmal sind sie klarer, diese verschmierten und oft noch kürzeren Titel. Klarer als der eigentliche Text. Da wird's ja gleich komplizierter!

Das verschmutzte Spiegelbild verwirrt, lenkt ab, und man sieht nur noch das Blut, beklagt das verzerrte Spiegelbild. Das ist halt kein klares Bild, das eine sauber bereinigte Realität zurück wirft - wenn auch gleichermassen seitenverkehrt. Doch weshalb soll denn ein verschmutzter Spiegel überhaupt ein weniger reiner Spiegel sein? Warum wollen wir den Spiegel immer sauber halten, wenn er ja verschmutzt manchmal ein klareres Bild abgibt, nur halt nicht “bereinigt". Warum soll das, was ist, weniger klar sein, als das, was man sich an Klarheit wünscht? Die Frage also nur, ist, was ist?

Welch saubere Welt, befreit von offen verlaufenden Kabeln und gesäubert von Scheisse, die in mitten der Strasse verlaufenden Kanälen zum Himmel schreit. Mit Computern auf Rädern, leise vor sich hin gleitend, überwacht von Displays, die schöne, von störender Unschärfe befreite, klare virtuelle Wirklichkeit zeigen, und wir uns da ganz zu Hause fühlen können. Unsichtbar befeuert mit Strom aus gut geschützten Dosen, bald auch direkt aus der Luft, gar direkt vom Himmel! Als wäre dieser Strom ein Geschenk Gottes! Ist er ja auch, vermute ich. Mein Herz blutet.

Das Blut in diesem Titel, das muss ich doch erwähnen, ist direkt aus den Offenen Adern Lateinamerikas geflossen, wenigsten aus schwermütigen Vorstellungen, angeregt durch den Titel des Buches von Eduardo Galeano. Dieses Buch hatte mir übrigens, so weit ich mich recht erinnere, mal ein lieber Schurke geschenkt, der verzweifelt auch versuchte, Löcher zu stopfen, manchmal ohnmächtig zornig, weil er es auch nicht schaffte. Ja, die Welt ist kompliziert. Wir lieben es immer, gemeinsam zu klagen, und hoffen, dass uns niemand erhört, sonst würden wir uns ja noch erfreuen müssen. Und das ist ziemlich anstrengend. Die pure Freude, die dann so ins Leere läuft, die Seele quält mangels Arbeit, weil man nicht mehr weiss, was man nun noch tun und verbessern könnte.

Doch befreit von der Mühsal eines irdisch schweisstreibenden Lebens, gezwungermassen bereit, die grosse Freiheit zu geniessen, die uns Gott, als Dank für unseren ewigen Fleiss, geschenkt hat, um an seiner Seite, dem ewig frei und Ungebundenen, die wahren Freuden eines paradiesischen Lebens zu geniessen. Und das alles, ohne sich Füsse und Hände schmutzig zu machen. Umgeben von wohlriechenden Düften, von reinen Essenzen aus heilsamen Kräutern, die im hübschen Gärtchen, rein biologisch, gleich hinter der Heilmittelfabrik des Modernen Lebens so herrlich gedeihen. Wie gut, dass wir gelernt haben, auch dem Organischen noch etwas Platz zu geben. Um Gleichgewicht zu schaffen. Ein natürliches Gleichgewicht. Und wir uns wieder auf dem richtigen Weg wissen. Auf dem richtigen Dampfer.

So dachte ich doch gestern beim Denken an diesen Titel, dass die Welt wirklich zwischen Nord und Süd zerrissen ist: auf der einen Seite des Risses der “zivilisierte Nord-Westen”, der jegliche unbewusste und belastende Bindungen hinter sich gelassen hat, die einer objektiven Erkenntnis und dem wohlverdienten Fortschritt ja nur im Wege stehen. Und ganz christlich befreit von Schande, Schuld und Sühne, dank modernen psychologischen Erkenntnissen und Methoden der Selbstbefreiung, und dank letzter Zweifel-behebenden Beruhigungsmittel! Auf der anderen Seite dieser “unterentwickelte Süden”, der halt noch unter der Knechtschaft von düsteren familiären und religiösen Verstrickungen korrumpiert und klagend vor sich hin modert, und noch nicht gemerkt hat, dass wir alle selber unseres eigenen Glückes Schmied sind. Ein Bild, das ja aus Geschichten, geschrieben von Leuten, vielleicht grad wie ich, vor unserem inneren Auge entsteht. Ein Bild, das erst noch rein objektiv begründet, dank standardisierten Forschungs-Methoden eine von jeglicher Trübung bereinigte und vom Schatten der Unwissenheit befreite Klarheit schafft, also zeigt, was Sache ist.

Unsinn natürlich, der Riss verläuft mitten durch die Menschenseele. Nord und Süd gibt es ja so nicht mehr. Zu viele Latinos, auch viele Guatemalteken, mischen inzwischen im freien Nord-Westen mit, und auch die wohltuende Aufklärung hat nicht vor den Türen des Südens halt gemacht. Doch ich als ewiger Zweifler hoffe, dass es noch nicht ganz so weit ist. Es gibt zu viele Wissende, die noch nicht wissen, dass sie trotz Wissen, eben auch wahrscheinlich Systemopfer und nur Kanonenfutter sind. Alles sieht bald überall gleich aus. Die Schaufenster glänzen sogar noch umso schöner in den Einkaufsstrassen der Grossstädte, in diesen noch immer zu entwickelnden Ländern. Und auch die Bildung ist schon überall so weit verbreitet, dass nun auch bald der Hinterletzte vom Nutzen von wissenschaftlicher Objektivität, und sauber bereinigter, global erarbeiteter Statistiken, überzeugt ist, und gleich sich unter dem Schutz deren kräftigen Flügeln in Ruhe schlafen legen kann. Höchstens mal noch eine kleine Pille einwerfen. Zur Sicherheit. Der Erfolg ist garantiert, denn wer glaubt, wird seelig.

Als etwas halbgebackener Zyniker würde ich nun jedoch eher sagen, reine Selbstbeweihräucherung. Vernebelungs-Taktik, in deren Schatten eben das moderne Kanonenfutter hergestellt wird. Futter von höchster Qualität. Alles Individuen, auch weil gut gebildet, und durch Menschenrechte geschützt, also Qualitätsgeprüfte Rohstoffe, die in einer hochstehenden und ebenso qualitätsgeprüften Produktionsmaschinerie zu Mehrwert verarbeitet werden. Rohstoffe, die zwar wegen leider noch allfällig unerkannten Erkenntnislücken noch "unerwartet” leiden könnten, deren Schmerz jedoch human sediert gelindert wird, mit Heilmitteln, die dankbar eingenommen werden, denn auch wir aufgeklärten Menschen wollen nicht immer alles so genau wissen. Das ist ja auch nicht unbedingt Sache der Aufklärung. Das macht Sinn, denn auch ich liebe es, ab und zu ein Glas Bier zu trinken, meine Augen zu verschliessen, besser als immer im Blut von ewigem Selbst-Mitleid zu versinken!

Ach Gott, welche Worte hast du mir wieder ins Ohr geflüstert, oder schlimmer noch, diese per Bypass direkt in meine etwas arthritischen Finger weiter leitest. Doch für diese Schonung bin ich dir dankbar, denn meine Schnittstellen sind eh fast schon immer überlastet. Mancher wird aufschreien und sagen, gebt ihm Medikamente, der Arme soll doch endlich Ruhe finden. Andere werden wohl die Öffentlichkeit vor solch Unerhörtem schützen wollen. Und ich versteh diese ja, leider. Doch gleich schreit mein Herz auf, und sagt, von welcher Öffentlichkeit redet ihr denn schon wieder? Von der statistik-bereinigten klar definierten sogenannten Mehrheit? Oder der der schweigenden unbedarft sorglosen Verantwortungslosigkeit? Ach Gott, lass mich doch damit in Frieden. Lass mich lieber leiden, und bluten. Dann fliesst wenigstens etwas. Und ich brauche den Fluss, der mich weitertreibt, und mich nach Hause bringt.

Das einzige, was ich an Statistiken schätze ist, dass ich als vergrämter alter Sonderling darob mit meinem Freund ein Klagelied anstimmen kann, um unsere Stimmen gemeinsam im Chor der Unzufrieden zu erheben. Natürlich überlege ich mir oft, ob eine positivere Haltung nicht doch viel einträglicher und gesünder wäre. Doch weil ich es nie so recht schaffe, vermutlich weil ich zu wenig diszipliniert auf meine Psychohygiene achte, und es darum noch nicht erreicht habe, dank Erleuchtung, den Freipass direkt von Gottes Hand zu erhalten, ich die frohe Botschaft von Ihm direkt erhalte, um sie weiter tragen zu können, und mir dank geheiligter Mittel keine Sorgen wegen allfälliger Nebenwirkungen mehr machen muss. Ich arbeite daran. Vielleicht schaffe ich ja das auch noch, doch dann nur mit Glück, und hoffentlich nicht gleich zum Unglück von anderen. Doch vorerst lasse ich Neid und Eifersucht sich weiter meiner bemächtigen, so dass sich das Klagelied in den Himmel schwingen kann, und meine Petition vor Gottes Füsse landen möge. Und wenn Er dann - als Feinschmecker - seine Füsse an dieser reich gewobenen Matte abwischen würde, ich gleich sicher wäre, dass wir unser Ziel erreicht haben.

Um gleich wieder von vorne zu beginnen. Nach einer kleinen Ruhepause, bitte!

Gut, denn seit kurzem weiss ich, dass es nichts Schöneres gibt, als wenn eben die gemeinsame grosse schmerzhafte Klage in den Himmel steigt, und sich unerwartet gleich in pure Freude und Heiterkeit verwandelt. Und das ohne aufheiternde Musik aus perfektem Soundsystem, auch nicht vom Bier befeuert, und auch nicht dem Fleiss von diszipliniert eingenommenen Stimmungsaufhellern - dank angewandter Wissenschaft - zu verdanken. Völlig CO2-frei, und erst noch unverwertbar. Pure Freude. ¡Pura vida! Alles jauchzet, und gleich fällt der positiv gepolte Regen wieder zu Boden, um die gequälten Seelen wieder neu zu erquicken, und zu impfen für einen neuen Tag. Und bereit, wieder frisch gestärkt und sanft umnebelt, wieder als Kanonenfutter zu dienen. Produkt von höchster Qualität. Eine vollendete Kreislaufwirtschaft.

Also, dank Wissenschaft und Statistiken können wir nun hoffentlich auch Raketen bauen, wenigstens die Eine, damit unsere wache und umsichtige Regierung sich im Notfall gesichert zurückziehen kann. Denn wenn wir eines nicht brauchen können, so das, dass unsere Regierung dann nicht mehr handlungsfähig ist, wenn die Welt zusammenbricht. Bedürfen wir nicht besonders dann deren Führung, wenn die ganze Welt unter Schutt und Asche versinkt, und Chaos pur herrscht? Dann brauchen wir doch klare Köpfe, die in sorgfältig vorbereiteten Reduits, zum Beispiel auf dem Mars, langsam wieder versuchen können, dem Chaos “Herr" zu werden. Und um dieses Reduit zu sichern, müssen wir halt alle Mittel bereitstellen, damit dieser Schutz der Führung sichergestellt werden kann. Da müssen wir halt auch die Nebenwirkungen dieser weisen Führungssicherung mal vergessen, ein Auge zudrücken, wie wir dies ja auch mit den Informationen der Beipackzettel der modernen Heilmittel bereits so erfolgreich machen.

Ja, dem Chaos “Herr” werden. Gut. So ist zum Mindesten der Schein wieder hergestellt, denn wir Herren können das ja besonders gut. Darum habe ich ja auch Psychologie studiert, mit Abschluss Master. Und was braucht es denn mehr. Was kann uns die blutende Realität schon treffen, wenn die Verpackung ja vielversprechend sauber leuchtet, so dass wir gleich wieder unbelastet und erfrischt in eine frohgemute Zukunft blicken und dahin aufbrechen können. Uns aus dem Schutt und der Asche erheben, mit erneuerter Kraft, wie der Phoenix aus der Asche. Herrlich!

Don Quichote lässt grüssen. Er weiss um den Unsinn, doch findet Abenteuer eben einfach herrlich. Und es gibt nichts schöneres, als Windmühlen zu bekämpfen. Die spielen fantastisch mit! Zwar Irreal und unrealistisch, gegessen! Doch sehr real für mich, vor allem für einen, der nicht weiss, was die “Realität" denn überhaupt ist.

Ach, was soll all dieses klagen! Ja, es hat schon seine Gründe! Doch wenn du etwas höher fliegst, ganz real, angetrieben von Produkten unserer Erde und der Wissenschaft, und in ein reales Flugzeug steigst, dann in der Dunkelheit des nächtlichen Universums in rastlosen Schlaf versinkst, um dann kurz vor der Landung, über die Grossstadt fliegend, all die Lichter zu bestaunen, die leuchten, die dein Herz in der Hoffnung auf Ankunft unter Menschen sich mit Freude füllen, und dir, trotz Wissen um all des Geschehens da unten, ganz warm ums Herz wird. Du bist wieder voller Hoffnung, und denkst dankbar an diese komplizierte Geschichte. Und es ist gleich so, als ob es Weihnachten wäre. Und du hoffst inbrünstig, dass die Menschen, die da unten am Boden diese Sicht vielleicht nicht so richtig teilen, ihr Klagelied erheben. Du wirst es hören. Und dich sehr freuen, wenn sie auch dich dazu einladen, mitzusingen. Du wirst gerne ein paar grosse Flaschen Gallo und eine Flasche Botrán - lieber noch Flor de Caña, wegen des schönen Namens  oder Tequila, und gut gekühltes Coca Cola mitbringen. Auf dass wir uns alle erheitern, um mit oder ohne Alkohol, mit der Kraft unserer Klagen gemeinsam in den Himmel der Freude wieder aufzusteigen.

Ich freue mich auf Weihnachten. Wieder mit Hoffnung erfüllt, und dem Wissen, dass alles gut kommt! Rein mathematisch begründet. Ich habe ja nicht von ungefähr einen identischen Drillingsbruder, der eine Sechs in Mathematik vorweisen kann. Das färbt ab, und macht sicher. Auch wenn ich selber Mathematik nur intuitiv begreife, denn von Formeln verstehe ich rein gar nichts.

Don Jorgito, der kleine Bruder des grossen Quijote.

PS: Don Jorgito lebt in diesem grossen wunderbaren alten Haus, gebaut im Stil und dank der Kolonien. Bei einer inzwischen vielleicht fast schon verarmten, aber immer noch privilegierten Familie. Er läuft gerne durch die Strassen von Xela, auch die schmutzigen und dunklen, und spielt mit den so wilden, von ihm so geschätzten, Sitz- und Gehsteigen. Und er kommt immer wieder zurück in sein Zimmer, luxuriös mit eigenem Badezimmer, um sich auszuruhen und zu schreiben. Und erlabt und erfrischt sich an der schmackhaft kreativen Küche, und dem Witz seiner leidenschaftlichen und aufmerksamen, gar religiösen Gastgeberin, der Ama de la Casa Doña Carmen. Und er vertraut ganz der Heizung der reinen Hoffnung, und angemessener Kleidung, um die kalten Nächte des guatemaltekischen, winterlichen Altiplanos gut zu überstehen.

PS1: Er lebt in Guatemala, das wie eine Insel scheint, in einer Welt, die Angst und Panik vor dem Virus hat. Er geniesst die Bewegungsfreiheit in dieser fürsorglichen und warmherzlichen Umgebung, doch macht er sich Sorgen um die Welt, auch er hat Angst vor den grossen und so genauen Zahlen, wie fast alle. Und immer wieder denkt er über den Preis der Wissenschaft und den Wert der Hoffnung nach.

Anmerkung des Schreiberlings: Es war sehr schwierig, diesen Text zu schreiben. Schon die Vorstellung, diesen ins Spanische und in die guatemaltekische Kultur zu übersetzen, brachte mich sehr ins Schwitzen. So wie am Tag zuvor, als ich den Text "La flor y la acera" vom Spanischen ins Deutsche übersetzt habe, Die Blume und der Gehsteig". Doch die Leidenschaft, immaterielle Brücken zu bauen, ist eine schweisstreibende, aber auch sehr schöne und interessante, wenn auch geradezu quijoteske Arbeit. (Zeichnung mit den Eseln, heruntergeladen von der Website educomunicacion.es. Danke!)

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