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Ein Tag im Leben von Jorgito 

9. Januar 2021, Jürg Messmer

Wie schon lange versprochen, für einmal nur Bilder, Fakten und Beschreibungen, anstatt ein langer, oft scheinbar etwas verwirrender Text. Doch etwas schwierig, um Schreiblust aufkommen zu lassen! Vielleicht einfach deshalb, weil ich wieder einmal versucht habe, allzu viel in diesen "Bericht" reinzupacken.

Ich lebe also in Xela (Quetzaltenango). In einem 120-jährigen Kolonialstil-Haus, das etwa drei Blocks südlich des Parque Centroamérica liegt, der hier meist einfach Parque Central genannt wird. Auch die Hügel im Süden, die den vor ein paar Jahrhunderten explodierten und fast erloschenen Vulkan Cerro Quemado umgeben, sind einfach zu Fuss zu erreichen. Eine sehr zentrale Lage also! Das war ein wichtiger Grund, warum ich mich in diesem Haus niedergelassen habe. Abgesehen davon, dass ich mich hier meist sehr wohl fühle.

Dank dieser zentralen Lage haben sich übrigens auch einige LiebesdienerInnen diesen Ort als Arbeitsplatz ausgesucht. Und da wird einiges geboten, ob von der Pazifikküste Guatemalas, der Costa, oder aus - dem doch recht fernen - Nicaragua. Für Überraschungen ist gesorgt.


Haus von der Strasse her

Das Haus sieht von aussen wie viele andere aus. Einstöckig, jedoch etwas breiter, und mit Fenster-Abständen,  die auf ein geräumiges Anwesen hindeuten. Wie an vielen Orten - z.B. in Marokko, Spanien, oder Italien, und eben hier in Zentral- und Lateinamerika - gehen die Häuser oft direkt auf die Strasse oder das Trottoir hinaus. Von Aussen wirken sie unscheinbar, und manchmal eher düster. Das sind sie ja oft auch, denn die Mauern sind dick, die Fenster eher klein, und die Fensterläden erst noch oft verschlossen, und die Räume deshalb entsprechend dunkel.

Auch vom Innenhof her werden sie kaum von Licht durchflutet, da meist noch ein bedeckter Corredor den Patio oder Garten umgibt, der vor Hitze, aber auch vor Regen und Unwetter, schützt.


Corredor auf Seite der Strasse, umläuft den Garten auf drei Seiten

Dieser Corredor bietet viele Möglichkeiten, einen geigneten Platz zu finden, z.B. wenn Freunde zu Besuch kommen, oder ein ruhiger Ort für eine Sitzung benötigt wird, und selbst für Kleider- und Schuhverkäufer, die manchmal vorbeikommen, um ihre Ware anzubieten - besonders zu Viruszeiten. Zudem gibt es eine Vielfalt von Plätzchen, die je nach Sonnenstand dazu einladen, sich zu erwärmen, etwas Ruhe zu geniessen, oder ein langes Telefongespräch zu führen - wie dies Doña Carmen und auch Tochter Maripaz öfters gerne machen. Kommunikation ist alles. Vor allem die Informelle, auch die mit WhatsApp.


Meine Ecke im Patio, mit dem Eingang zum Zimmer

Dieser Teil des Corredors ist mein privater, und der Ort, an dem ich in den hinein Tag erwache, Kaffee trinke, meine Friedenspfeiffen rauche, und immer wieder wild schreibe. Einfach weil mir noch vor dem Einschlafen wieder ein Thema - ja ein genauer Titel - eingefallen ist, zu dem ich mal wieder meinen Senf geben möchte, ja muss - getrieben, als wären die Finger meine Meister, und ich nur wenig dazu zu sagen hätte.


Tageserwachen, Auftritt der Sonne

Es gibt auch einige tierische Gäste hier, allerlei Vögel, und auch ein Kolibri kommt ab und zu auf Besuch. Oder die grau-weisse Katze, die öfters mal im Garten, den Bäumen und den Dächern herumvagabuntiert, und der es immer gelingt, eine gute Falle zu machen. Auch der Haus-Papagei, der ohrenbetäubend schreit, wenn es ihm zu kalt wird und er zugedeckt werden will. Und natürlich die drei Hündchen Nikki, Moro und Olav, die selbstverständlich im Garten ihre Notdurft verrichten dürfen. Vorsicht ist angebracht!

Gar eine Fledermaus, die sich die grösste Baumkrone für ihren Ruheplatz ausgesucht hat, lebt hier. Überall hinterlässt sie ihre Spuren, auf dem Boden, gar auf dem Sofa oder den Polstersesseln. Was zur Folge hatte, dass eine Exekution kontrovers diskutiert wurde, und nun mindestens alle Sitze immer mit Plastik abgedeckt werden müssen. 

Das erinnert mich an die alten Leute in der Schweiz von früher, die oft jegliche bequeme Sitzgelegenheit mit Leintüchern bedeckt hatten, und es schien, als wären sie seit Jahrzehnten bereits gestorben. Und das, um diese Möbel vor dem Leben zu schützen. Erinnert mich irgendwie - entfernt - an heute. Doch ich sehe ja auch die Sorgfalt: Sorgfalt und Leben sind offensichtlich behutsam abzuwägen. :-) 


Mein Zimmer, mit dem neuen Boden, noch bevor ich es so richtig eingelebt habe

Das ist mein Zimmer, mit Bett, Schreibpültchen, Kleiderschrank, und einem alten Fernseher, der jedoch nicht funktioniert. Gott sei Dank. Und ein Badezimmer, meist mit angenehm warmem Wasser. Hier schlafe ich, oft nur 6-7 Stunden, doch in den letzten Tagen fast immer gegen die neun Stunden! Vermutlich, weil ich nicht allzu viele Strukturen habe und ich das Leben immer wieder neu erfinden, und mich immer wieder mit neuem Unbekanntem auseinandersetzen muss; und oft abwägen, was ich mache oder sage, damit ich mich nicht in Nesseln setze. "En vivo" gelingt das ganz gut, denn so kann ich die Situation einfach mit einem schiefen Grinsen und einem Spruch wieder retten, und klar machen, dass es sich bei diesem Holzbock eben nur um ein etwas unbeholfenes, fremdes Alterchen handelt, das mit der lokalen Kultur noch nicht so vertraut ist. Also exotisch. Dafür hat jeder und jede Verständnis. Und das bringt sie zum lachen.


Tochter Maripaz beim Frühstück vorbereiten

Da die Sprachschule Celas Maya immer noch geschlossen ist und ich nicht bereits um 7:45 aus dem Haus gehen muss, frühstücke ich meist erst so gegen 8 Uhr, wenn ich schon fast alle meine Arbeiten erledigt habe. “Don Jorgito, venga a desayunar!” ruft meine Carmita, immer zuverlässig und pünktlich, so dass ich weiss, dass bereits ein warmer Mosh (Porridge), mit Früchten bedeckt, und irgendwas mit Eiern, oder auch Würsten und Käse, und morgendliches Geplauder auf mich warten. Und ein weiterer Cafecito. Dies vor allem von Montag bis Freitag.

Am Samstag und Sonntag ist es etwas anders. Da kann es gut sein, dass Tochter Maripaz mir das Frühstück bereitet. Heute leider ohne Früchte, was ich jedoch einfach akzeptierte, da ich dachte, dass das nun mal das sei, was Gott mir heute bescheren möchte. Doch gleich schalt Doña Carmita ihre Tochter, als sie kurz darauf in die Küche kam, und meinte, dass ich eben gerne Früchte hätte. Sie ist eine strikte Lehrmeisterin. Der Gast kommt zuerst, auf den ist zu achten. Wie auch auf den Herrn des Hauses, oder den Enkel, die wir ja - wie alle Männer - einfach Wichtigeres zu tun haben, als uns ums Essen zu kümmern. Stimmt ja auch, wenn wir denn schon wenig machen, dann wenigstens das so richtig wichtig.


Doña Carmita - Carmen Pineda de López - ama de la casa, y mi jefa


Tochter Maripaz mit ihrer Lieblings-Chihuahua-Hündin Nikki

Leider kann ich nicht die ganze Familie in Bildern zeigen. Ich bin sehr zurückhaltend beim Fotografieren von Menschen. Vom Vater, Don Gustavo López Mena habe ich nur ein Bild, das ihn am Mittagstisch zeigt. Dieses Bild habe ich im Bericht "Eine kleine Rauchergeschichte" gezeigt, eine Geschichte, die auf Kleinigkeiten hinweist, die mich auch hier nach Xela gerufen haben.

Ein Foto von Sohn und Enkel Andrés ist schwierig zu machen, da er immer auf dem Sprung ist. Doch auf einem Bild sieht man ihn gut, vor der Haustür, anlässlich meines Abschieds vor der Rückreise in die Schweiz im Dezember 2019. Ich selber war damals sehr aufgewühlt, vermutlich weil ich bereits damals ahnte, was alles auf mich zukommen würde.

Im weiteren gehört natürlich auch Flory zur Familie, die indigene Muchacha, die zweimal wöchentlich kommt, um zu putzen, und auch zum Beispiel meine Bettwäsche zu wechseln.


Abschied von Xela, Dezember 2019, Maripaz, Andrés, Doña Carmen, und Jorgito

Auch der Hausherr hat immer etwas zu tun. Er schaut oft und gerne fern und hält uns auf dem Laufenden, ob nun der Virus, der amerikanische Präsident, oder die Situation in Europa aus dem Ruder gelaufen sind. Er weiss viel zu erzählen, genau und voller präziser Daten, und kommt in Schuss und muss sich so wegen seines schlechtes Gehöres wohl keine Sorgen machen, sich selber hört er ja. Und er weiss, wovon er spricht.

Er hört auch durchaus anderes, wenn es ihn interessiert, vor allem wenn er dann gleich wieder in seiner Mottenkiste stöbern kann, wo sich manche Geschichte findet, die er interessant zu erzählen weiss. Spannende Geschichten: von Militär, Entführungen, Korruption und Morden. Aber auch aus der internationalen Geschäftswelt, die er aus langer eigener Erfahrung kennt. Seine Meinungen sind sehr klar, doch in meinen Ohren manchmal auch sehr zwiespältig.

Klar ist, dass alle die nicht gebildet sind, mal schon unten durch sind! Zudem ist er in einer Familie von Militares aufgewachsen, sein Vater war General bei der Marine, und auch sein Bruder ist General in der Armee. Dabei hat Don Gustavo auch ein Herz für Aufständische, und Ungerechtheit und Korruption sind ihm ein Dorn im Auge. Das zusammen ergibt eine eigenartige, fast explosive Mischung. Er ist engagiert, aber auch schnell bereit, zur Pistole zu greifen, um aus Unordnung wieder Ordnung zu schaffen, das machen seine Erzählungen deutlich. Er ist effizient, aber immer wieder auch zuvorkommend, auch liebevoll zu seiner Frau. Und er zündet gleich sorgfältig Kerzen an, wenn das Licht mal wieder ausgeht.


Besuch von Familie an Weihnachten, wieder einmal Stromausfall

Als ich Doña Carmen und Don Gustavo im Herbst 2019 - noch im Studentenzimmer - vorschlug, das einzige und grösste Zimmer, das noch keinen Holzboden und keinen Schrank hatte, bewohnbar zu machen, so dass ich es mieten könnte, war er sofort dabei, und hatte noch am gleichen Tag einen Plan für den Schrank gezeichnet; und gleich am nächsten Tag kam der Schreiner vorbei, um eine Offerte zu machen.

Wenn es um Nägel mit Köpfen geht, dann ist er der Mann der Stunde. Und das auch mit grosser Sorgfalt, jedes Detail will erwogen werden, so dass der Charme des alten Hauses nicht verloren geht. So ist dieses Haus ja auch seines, obwohl es ja aus dem Erbe von Doña Carmen stammt. Doch er hat vor mehr als einem Jahrzehnt, damals noch in leitender Stellung eines grossen Autoersatzteil-Importeurs, sein ganzes Geld ins Haus investiert; das Dach erneuert, ohne die Substanz und die alten Ziegel zu verändern, und passende Bäder in alle Zimmer einbauen lassen, damit sie Zimmer für Gäste vermieten könnten, um im Alter etwas dazu verdienen zu können. Altersrenten und Pensionen sind hier karg, wenn überhaupt vorhanden.


Gartenteil, in dem ich oft Sonne tanke, rauche, und auch "kommuniziere"

Im Patio bin ich fast immer. Oft setze ich mich einfach an die Sonne, um mich zu erwärmen, und eine Zigarette zu rauchen. Doch gleich kommen mir da tausend Ideen, und ich hole meinen Compi und schreibe. Oder fast täglich treffe ich mich im "Salon" mit Vivian, um Texte zu korrigieren, mein Spanisch zu verbessern, oder auch um Inhalte zu überprüfen und zu redigieren, wenn es um gemeinsame Projekte wie das Projekt “Eine Geschichte Guatemalas, und die Beziehungen mit der Schweiz” geht. Oder um zu überlegen, wie wir die Schule Celas Maya wieder aus dem viralen Schlaf erwecken könnten. Das braucht einige Vorstellungskraft. Und vor allem Geduld. Doch die wurde mir ja in die Wiege gelegt.


Blick auf die Sprachschule Celas Maya, geschlossen wegen Covid-19

Immer wieder gehe ich auch in der Stadt laufen, um Dinge zu erledigen, einen Kaffee zu trinken, oder einfach rumzulaufen. Oder sitze mich in mein "Büro" auf dem Gehsteig gegenüber der Schule, um auf Vivian zu warten, um uns mit Federico, dem Direktor der Schule, zu treffen. Mit den Wächtern der nahegelegenen Parqueos, Tío Armando oder Don Fernando, bin ich inzwischen sehr vertraut, und eine Gelegenheit zu einem Schwatz gibt es immer. Und auch wenn ich einer alten Frau, die vorbei geht, einfach mal “buenos días” wünsche, hält sie vielleicht an, um mit mir Aktuelles zu besprechen, über die Schule, die geschlossen ist, oder über die Nachbarn vis-a-vis. Oder es hält ein Taxifahrer, um mir “Hola amigo” zuzurufen, und auch gleich ein paar Worte mit mir zu wechseln. Es scheint bekannt, dass ich hier immer wieder mein Büro auf der Strasse aufschlage. Ist ja auch einfach: Tagesrucksack, Handy, und Zigaretten, von denen Rauch aufsteigt, damit die Leute wissen, dass mein Büro offen ist!


Am Parque Central, mit Kirche, komme ich fast täglich vorbei

So nach ein Uhr mittags werde ich unruhig, denn ich weiss, dass es Doña Carmen nicht schätzt, wenn ich nicht rechtzeitig zum Mittagessen erscheine. Doch bei meinem unstrukturierten Terminkalender ist das manchmal schwierig. Doch schaffe ich es fast immer. Auch wegen dem Essen, denn es ist das beste und variantenreichste weit und breit, mindestens von ganz Xela. Jeden Tag etwas anderes. Und fast immer auch mit einer Sopita - wie zu alten Zeiten. Oft gibt es Geflügel oder Fleisch, aber auch Fisch, und immer wieder sogar einfach etwas Vegetarisches. Und fast immer Gemüse oder auch Salat. Und natürlich Tortillas oder Tamales.

Vegan? Nein, damit klappt es (noch) nicht, doch über Nutzen und Schaden von solchem kann man ja durchaus auch geteilter Meinung sein; vor allem, wenn es sich um ein “armes” Land handelt, und halt Fleisch und Fisch relativ billig sind. Zudem ist es ja hier oft kalt, und der Tag bedeutet arbeiten und überleben; was so mache Kalorie verbraucht und nach handfestem Essen verlangt. Essen ist ja auch entsprechend wichtig. Der ganze Tag dreht sich manchmal fast nur ums Essen. Alles andere ist Beilage, wenn auch nicht ganz unwichtig.

Doña Carmen ist das Herz und die Seele des Hauses. Und die Chefin. Sie hat es im Griff. Auch wenn sie mit 71 öfters über Rückenschmerzen klagen muss, weil sie fast immer in der Küche steht. Manchmal erscheint es mir, als würde sie um den Küchentisch herum tanzen. Sie ist sehr lebendig, sehr witzig, und kann in Sekundenbruchteilen aus Klage in grosse Heiterkeit ausbrechen. Oft eine wahre Freude. Sie stellt sicher, dass Gott für den reich gedeckten Tisch gedankt wird. Sie ist sehr religiös. So dass ich oft auch übersehen kann, wenn sie manch allzu heftig unbedarfte Unwissende der Versündigung gegen Covid-Regeln anklagt. Ich habe gelernt, ihr zuzuhören, und versuche einfach, ihr ab und zu den Standpunkt dieser Sünder etwas näher zu bringen. Einen Standpunkt, den ich zu verstehen glaube, und manchmal auch teile, vielleicht einfach weil ich eine grosse Vorstellungskraft habe.


Mercado Las Flores, einer der vielen Märkte von Xela

Ab und zu genehmigen wir uns zum Essen ein Glas Wein, das Don Gustavo aus seinem geheimen Schrank hervorzaubert, oder ich - mondäner - in der Liquorería beim Mercado Las Flores beschaffe. Italienischen Wein, wenn möglich, weil Don Gustavo den schätzt. Oder halt chilenischen oder argentinischen. Und ab und zu einen Rosado dulce, doch den aus Kalifornien, weil der sich am Besten mit der Gastritis von Doña Carmen verträgt. Na, ja, die Gastritis geht dann manchmal vergessen, und macht sich erst in der Nacht bemerkbar; genau so wie wenn sie mal bei der Pizza von Pizzahut halt etwas zu eifrig zulangt. Die gibt es ab und zu, da Sohn Andres halt fast nur Geflügel, und Pommes Frites, oder mal Tacos, oder eben Pizza isst. Und die auch kriegt, denn der Sohn und Enkel ist es das wert. Und ich denke dann, erst etwas unsicher: er weiss sicher, was für ihn gut ist. Wer denn sonst! Vor allem wenn diese Meinung auch seine Mutter Maripaz, und seine Abuela Doña Carmen teilen.

Also alles in Butter. Und viele Gespräche, Gerüchte, Klagen und Gelächter sind mit dabei am Tisch. Denn vor allem Doña Carmen ist ein nie versiegende Quelle von Geschichten, die sie sehr lebendig und mit vielen Gesten zu erzählen weiss. Auch Maripaz ist nicht weit vom Stamm gefallen.

So ein Essen kann also dauern, so dass ich dann schon mal etwas unruhig werde, und den Moment zu packen suche, in dem ich in Ehre, und nicht zu früh, mich vom Tisch mit einem “¡Gracias! Buen Provecho!" selber entlassen kann, und auch problemlos mit einem mehrfachen“(buen) provecho” entlassen werde. Um eine Zigi rauchen zu gehen und etwas Ruhe zu geniessen. Damit ich erfrischt wieder weiter stürmen kann. Bin ja Mann, und wichtige Aufgaben warten auf mich.

Der Nachmittag kann vieles mit sich bringen. Ein Schläfchen, wenn möglich, doch oft nur, um gleich wieder aufzustehen, um etwas zu erledigen, z.B. den Antrag für die permanente Aufenthaltsbewilligung sorgfältig fertig zu stellen, oder sonst etwas vorzubereiten, etwas auszuformulieren. Vielleicht auch mal einen starken Capuchino beim Y-Café holen, um den im Kiosko des Parks zu trinken, doch das mache ich eher morgens.


"Kiosko" im Parque Central von Xela - Kaffee trinken, Leute treffen oder zuschauen :-)

Oft treffe ich mich mit Vivian gegen 16:30, um zusammen zu arbeiten, und anschliessend vielleicht gleich zu Erika zu gehen, in ihren “bescheidenen” salón de baile, um zu plaudern, ein Bier zu trinken, und natürlich zu tanzen. El baile de la vida.


Salón de baile "Salsa Rosa" von Erika - Treffpunkt

Und gleich wieder etwas Stress: Doña Carmen erwartet mich zum Nachtessen! Ich weiss, sie ist flexibel, und hat mir versprochen, auch noch bis zehn Uhr Nachts mir eine heisses Süppchen zu machen. Doch inzwischen weiss ich, dass die Dinge komplizierter sind. Doch nichts, das ernsthafte Differenzen auslösen würde, doch bin ich schon etwas auf Draht. Wie wir dieses Problem langfristig lösen werden, ist noch offen, doch wir werden es schaffen. Auch Nachts wird oft viel geklatscht, geklagt und gelacht, und nicht selten kommt auch noch jemand zu Besuch. So dass es auch dann wieder ab und zu schwierig wird, den richtigen Punkt des Abtritts zu finden. Doch “Gracias, buen provecho”, und ein “Buenas noches” reichen, um jede Diskussion zu vermeiden. Dieser Wille wird respektiert. Ohne Zweifel.

Oft verabschiede ich mich schon kurz nach Acht, hänge noch etwas im Patio herum oder verbessere noch einen Text. Doch meistens bin ich vor 9 Uhr im Bett. Es gibt Ausnahmen, ein Fest, ein Nachtessen in der Musiktaverne, oder ein Besuch auswärts. Manchmal lese ich noch etwas, wie zum Beispiel jetzt das Buch des jungen Ernesto "Che" Guevara, seine "Diarios de Motociclista". Doch schnell fallen meine Augen zu. Bin ja ein Frühaufsteher.


Blick auf mein Quartier, mit Kirche beim Parque Central, und Hausberg "El Baúl"

Bemerkungen zu meinem Wohnort: Wichtig ist, dass ich hier fast alles zu Fuss erreichen kann, ob es nun die Gasolinera de Amor ist, wo ich meist meine Zigaretten kaufe, der Optiker Rodrigo, bei dem ich letztes Jahr eine Brille gekauft hatte, oder der Schneider, der mir die Jacke, die ich von Walo geerbt hatte, flickte, weil ein Rosendorn sie verletzt hatte. Auch wenn ich Kleider oder Esswaren kaufen möchte, das gibt es alles in der Nähe. Selbst kleine Spitäler, und massenweise Anwälte. Und fast alle meine Freunde sind in Gehreichweite. Ein wahrer Luxus.


Gespräche im Parque Simón Bolivar, auf dem Weg zu Vivian

Schön ist auch, dass meine Sprachschule in nur 5 Minuten zu Fuss zu erreichen ist, und auch meine sehr geschätzte Koordinatorin nur etwa eine knappe Viertelstunde entfernt wohnt. Und dass ich, in meinem Alter nützlich, auf dem Weg zu ihr auch mal im Parque Simón Bolívar eine Pause einlegen kann, um mit Simón etwas zu plaudern, und dabei eine Friedenspfeife zu rauchen. Diese Gespräche inspirieren immer wieder. Und wenn er mal schweigt, dann findet sich oft jemand, mit dem ich einige Worte wechseln kann, das ergibt sich von selbst, und wenn es “nur” ein Borracho (Besoffener) ist.


"La Cafetera" (Terrasse rechts oben), Lieblingstreffpunkt, geschlossen seit erstem Covid-19 Lockdown.

Auch wenn viele alte und geliebte Orte geschlossen oder gar konkurs gegangen sind und das zu Beginn sehr traurig war, so gibt es immer noch einige Bars, Taquerías und Cafés; so auch das Musikcafé La Peña de los Altos, in dem es auch hervorragende Pizza oder lokale Speisen gibt. Schon mehrmals haben Vivian und ich da einen Cantante oder Cantautor singen gehört, eine Freude: diese schönen, stimmigen Texte, gesungen mit kräftiger Erzähl-Stimme, zu rhythmischen Klängen einer akustischen Gitarre - und das ohne Schnickschnack. Wenn auch mit Verstärker.


La Peña de los Altos, Musikcafé mit feiner Pizza, und vor allem guten Cantautores

Und das El Prado, das am Fuss vom Hausberg “El Baúl” einen schönen Blick auf die Stadt werfen lässt, und in der Nacht auch zu einem Pavillon hinauf, zu dem eine Treppe führt, und alles sehr schön beleuchtet, als wäre es ein himmlischer Ort der Sehnsucht. So dass es einem nie kalt ums Herz wird, auch wenn die Nächte von Xela kalt sein können, und man besser warme Kleider auf sich trägt.


Strassenhunde, perritos de la calle, beim Schlafen

Immer wieder sehe ich sie, die Strassenhunde, die selten allein, manchmal zu zweit, doch oft in Gruppen in den Calles und Parques unterwegs sind. Schlanke, meist sehr friedliche, oft etwas vernachlässigte, manch verletzte oder gar behinderte (dreibeinig), Tiere, die immer wieder dankbar sind, wenn jemand sie streichelt, sie füttert, oder sonst sich um sie kümmert. So wie Erika, oder Vivian, oder wie vor Jahren auch Joya! Ich liebe diese Strassenhunde von Xela.


Kein Strassenhund, doch Vivian's Sohn "Bambi", auf dem Weg zum Veterinario

PS: Es ist klar, dass ich hier ein privilegiertes Leben lebe, und nicht alle Patios - wenn überhaupt vorhanden - so grosszügig sind. Manche Patios sind sehr klein, haben nur Platz für ein paar Blumen, wie der bei Vivian zu Hause. Oder der gar düstere und winzige im bescheidenen Häuschens ihres Bruders Willi. Doch mit nicht minder angeregten Gesprächen - auch bei gemeinsamer Zigarette! Über solches werde ich vielleicht bei einer anderen Gelegenheit berichten - auch darüber, was dies alles mit mir macht, ich damit mache.

PS2: Xela ist eine Stadt - wie vermutlich alle - die sich erst auf den zweiten Blick dem Besucher öffnet. Bei mir dauert dieses Augen-öffnen nun schon - gesammelt - bald 2 Jahre, also wird hoffentlich noch so manches Jahr dauern. Da gibts noch viel zu tun, zu lernen und zu erfahren, vielleicht gar offenbaren. Was würde ich ohne dieses ewige Lernen denn überhaupt machen? Dass wäre ja genau so, als wenn Gott keine Sünder mehr um sich scharen könnte.

Musik und Video
Stimmig die Bilder, und der Titel: "Ser del viento" - Sara Curruchich ft. Kontra

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