Reset - Stunde Null - Stillstand
18. Oktober 2015, Jürg Messmer
Ich habe gewerweißt wie ich diesen Text betiteln soll und bin zu keinem befriedigenderen Resultat gekommen. Der Titel soll meinen gegenwärtigen Zustand - analog einer Boulevard-Schlagzeile - so präzis als möglich ausdrücken.
Seit mehr als einem Jahr habe ich nur abgebaut, aufgeräumt, losgelassen. Lange Zeit ist scheinbar nichts hinzugekommen, nur verloren gegangen. Jetzt erstmals habe ich das Gefühl, dass etwas neues passiert. Ich habe Angst, diesen Zustand zu benennen, aus Angst, damit auch den Sinn zu verlieren, den ich mit der Benennung erhalten möchte.
Was habe ich aufgegeben oder verloren:
- Eine langjährige Beziehung - Anna ist in die USA zurückgekehrt. Ein wichtiger Referenzpunkt in meinem Leben ist verloren gegangen. Auch ehemals gemeinsame Beziehungen verändern sich oder gehen gar verloren.
- Meine wichtigste Tätigkeit, mein Beruf, ja meine Berufung der letzten mehr als 12 Jahre, ist zu Ende gegangen und ich habe keine Aufgabe mehr.
- Meine Gesundheit passt sich dem Alter an: mein Gehör hat sich massiv verschlechtert und auch andere Altersbeschwerden machen sich bemerkbar.
Was für andere sich vielleicht langsamer und unmerklicher oder in Phasen vollzieht, oder durch eine stabile Beziehung gemildert wird, ist bei mir „brutal“ in relativ kurzer Zeit passiert. Selber schuld: ich habe den Prozess beschleunigt weil ich es wissen wollte; ich habe bewusst - mit Hilfe meiner Arbeitskollegen - die Arbeit beendet. Trotzdem fühlt sich das jetzt abrupte Ende wie ein kalter Entzug an. Die entstandene Leere mit der damit einhergehenden Verunsicherung bewirkt auch, dass ich mich von alten Beziehungen zurückziehe – zu viel hat sich geändert, vieles scheint nicht mehr zu passen. Auch wenn ich Angst habe davor was passiert, so scheint doch klar: ich muss den Stier bei den Hörnern packen.
Selbstverständlich beschäftige ich mich sehr damit, was ich jetzt noch „für den Rest meines Lebens“ tun könnte, welche Aufgabe meinem Leben noch einen Sinn geben würde; doch was immer auch mir in den Sinn kommt, ich glaube nicht daran. Mir fehlt die Vision, ich bin ernüchtert und merke, dass alle Lösungsversuche nicht wirklich Sinn machen, sondern nur der Beruhigung, der Abwehr des Gefühls der Nutz- und Wertlosigkeit dienen. Alle möglichen Ideen entpuppen sich als leeren Aktivismus und es ist schwer, dies auszuhalten.
Gleichzeitig scheint mir, dass unsere heutige Welt genau unter dem leidet: einem sinnlosen Aktivismus, aus Angst die eigentlichen Probleme zu erkennen – etwas überspitzt gesagt: 100 Jahre Psychologie haben es geschafft, eine Welt von „selbstverantwortlichen“ Individualisten zu erschaffen, in der dynamische, konsumierende und Mehrwert schaffende - verantwortungsvolle - Träger der Gesellschaft verantwortungslosen Misanthropen, Schwarzsehern und Spielverderbern gegenüberstehen, zu denen auch ich in der Regel gehöre. Das Spiel ist einseitig, denn der Spielverderber ist oft auch voller Neid - no fun - und die einzige Heilungsmöglichkeit in dieser Situation scheint vollkommen klar: nur die Therapie des ewig unzufriedenen Zuviel-Denkers kann die Lösung bringen. Der Zucker des Optimismus der Idee der Gemeinschaft freier, sich individuell entfaltender Menschen, hat seine Wirkung erzielt.
Ich stehe also an einem Ort, der unangenehm ist und ich weiss nicht, wohin die Reise geht; ich weiss nur, dass ich einen Weg suche, um aus dieser ausweglosen Situation herauszukommen. Doch die einzige Richtung, die ich sehe, ist zu lernen, mein Leben ganz und voll anzunehmen. Yoga hilft mir dabei und die konsequente Bewegung hin zu einem Leben, in dem die inneren Erkenntnisse sich auch im Äusseren manifestieren und nicht damit im Konflikt stehen. Dies ist ein spannender Prozess und dafür bin ich dankbar.
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Rafi, 28. Oktober 2015
Lieber Jürg,
wohin auch immer deine Reise geht, ich wünsche dir zu deinem 26. Geburtstag alles Gute. Für dein 26+1. Lebensjahr hoffe ich auf viel Kraft um dich vom Reset zu erholen und Neues aufzubauen.
Rafi