Orientierung - Fragen zu Entscheidungen
25. November 2015, Jürg Messmer
Wie weiter im Leben? Immer wieder stehen grundsätzliche Entscheidungen an, die mich an meine Grenzen bringen.
Seit längerer Zeit wird mein Gehör immer schlechter. Mir graut davor. Mir graut vor dem Kauf eines Hörgerätes, weil es meine ganzen Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten auf den Kopf stellt. So kann ich nicht mehr einfach ins Wasser springen und beim Rennen - was ich ab und zu immer noch mache :-) - laufe ich Gefahr, das Gerät zu verlieren und ersetzen zu müssen. Zudem scheint ein Hörgerät dauernd Anpassungen zu erfordern. Schliesslich verbrauchen diese Geräte eine Menge Batterien, die die Umwelt belasten. Und sie sind sehr teuer - für viele Leute deshalb nicht einmal erschwinglich!
Warum passe ich mein Verhalten nicht einfach den geänderten Bedingungen an? Wenn ich die Reaktionen auf das Thema anschaue, dann scheint es hier keine Wahl zu geben. Wir sind dem Fortschritt verpflichtet und wollen auch im Alter gleich weiter leben wie bis anhin. Doch warum eigentlich bitte ich nicht einfach meine Gesprächspartner, etwas deutlicher zu sprechen und vermeide akustische Albtraum-Situationen? Ist langsam taub werden nicht einfach ein langsames Abschiednehmen von der Jugend, ja gar vom Leben, was früher oder später eh nicht zu vermeiden ist? Warum müssen wir denn auf Teufel-Komm-Raus ewig jung bleiben und deshalb zum Cyborg, zur Mensch-Maschine, werden, und zu wessen Nutzen?
Der Druck, sich hier anzupassen, ist gross und deshalb die Frage offensichtlich: warum mache ich nicht einfach das, was andere machen, insbesondere mein Bruder, der sich bereits seit Jahren mit Hörgeräten beschäftigt und sich vor langem diese Geräte angeschafft hat? Wenn ich das nicht mache, dann stelle ich seine ganzen Bemühungen, sein ganzes Denken und die moderne Welt in Frage. Ist das nicht einfach Hybris? Gut möglich, doch meine wichtigste Motivation ist die folgende: alle Welt spricht von Umweltverschmutzung und deren Auswirkungen. Doch warum haben diese Einsichten kaum Auswirkungen auf unser Handeln? Mein Gedanke ist ein sehr einfacher: Wenn ich sehe, dass etwas, das vordergründig gut ist, in einer anderen Dimension schlecht ist, dann frage ich mich natürlich, ob ich das Schlechte in Kauf nehmen soll, ja in Kauf nehmen darf. In Fragen der Gesundheit stellt sich diese Frage ja oft. Warum nehme ich Gefahren für die Allgemeinheit, für die Umwelt in Kauf, wenn es um meine persönliche Gesundheit geht. Warum will ich kurzfristig “gesund” werden oder bleiben, riskiere jedoch auf längere Sicht Nachteile für mich oder andere. Was nützt ein leidlich gutes Hören, wenn der Preis dafür eine Umweltbelastung ist, die ihrerseits längerfristig das Gehör beeinträchtigen könnte?
Klar, dank einem verbesserten Gehör kann man auch im Alter weiter ein nützliches Mitglied der Gesellschaft sein. Doch zu wessen Nutzen? Die Verkäufer von Hörgeräten, Schönheitsoperationen, Schlafmitteln und anderen sogenannten Heilmittel verdanken es uns auf jeden Fall. Und soll denn eine ältere Person nicht mehr aktiv am Leben teilnehmen dürfen? Doch klar, sie soll dürfen, doch warum nicht auf eine andere Art? Es scheint mir, dass die älteren Leute einfach auch eine wichtige Konsumentengruppe sind, die den kurzfristigen Zielen der Gewinnmaximierung dienlich sind. Ich weiss, wir Älteren wollen auch nach der Pflicht die Kür und möchten allfällig verpasstes nachholen. Wie geht das genau? Und muss es Hyperaktivismus sein? Wieso nicht Besinnung?
Wenn man heute nicht vom Reisen, von interessanten Aktivitäten oder sinnvollen Beschäftigungen spricht, dann wird man schief angeschaut, als depressiv beurteilt oder schlicht als nicht attraktiv bewertet. Doch soll mich das treffen? Bin ich so unsicher auf meinem Boden? Ich habe viel erlebt und klar, ich möchte das eine oder andere noch gerne erleben. Doch könnte ich ja z.B. die Gebärdensprache erlernen, oder einfach geduldiger und aufmerksamer sein und den Leuten die Hände halten, sie berühren, anstatt einander nur mit flüchtigen Worten zu streifen und Nichtigkeiten auszutauschen. Warum kann der Austausch nicht einfach auch etwas langsamer sein, die Worte gewählter und klarer ausgesprochen, dem Gegenüber in die Augen geschaut anstatt mit Blick auf das Mobilgerät dem Anderen einen schnellen Gedanken hinzuwerfen.
Grad heute morgen wieder plagt mich mein Tinnitus und die Dumpfheit in den Ohren. Wie weiter also? Wiederum bin ich sehr verunsichert, doch spüre ich diese grosse Kraft - vielleicht Sturheit - die mir den scheinbar naheliegenden Weg verweigert. Das erinnert mich an meine Wanderungen: oft wenn ich einen unbekannten Weg sehe, der zum gleichen Ziel führen könnte, betrete ich ihn, auch wenn diese Entscheidung viel mehr Aufwand bedeuten kann. Vielleicht ist es eine Art von Neugierde, die mich treibt. Auch möchte ich dem Materialismus etwas entgegensetzen. Materielle Lösungen sind immer schnell gefunden, denn sie sind sichtbar, bewertbar und verfügbar. Sie sind verkaufbar. Sie lösen jedoch konkrete Problem ohne sich ausreichend mit komplexeren Fragen rund um mittel- oder langfristige, unerwünschte Nebenwirkungen auseinanderzusetzen.
Die heutige Zeit verlangt nach schnellen Lösungen, denn wir müssen ja unser Leben ausnützen und jeder ist für sich selbst verantwortlich. Doch ich wünsche mir, dass wir unsere Unruhe und Unzufriedenheit, unsere gemeinsamen Problem weniger mit oft unsinnigen Konsum (Produkten, Reisen, usw.) bekämpfen, sondern uns anderen Möglichkeiten des Ausdrucks zuwenden. Da gibt es wo möglich sehr viel Aufregenderes zu entdecken. Zum Glück kann ich das selber immer wieder machen.
Mal schauen, wie es mit meinen Entscheidungen - z.B. wegen meinem Gehör - weitergeht. Das letzte Wort ist ja nie gesprochen. Vielleicht kaufe ich mir ja dann trotzdem ein Hörgerät. Doch wenn ich eine für mich stimmigere Lösung finden und vielleicht auch zu Fragen anregen kann, dann bin ich froh. Qui vivera verra!
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Thomas Gressly, 25. November 2015
Sich diese Fragen zu stellen ist löblich. Aber wenn sich die Lebensqualität sichtlich steigert finde die Umweltbelastung eines Hörgeräts mehr als vertretbar. Doch auch richtig finde ich, dass wir nicht dem Zwang unterliegen sollen, das ganze Leben gleich funktionieren zu müssen und dass unsere Mitmenschen ruhig lernen können, mit diesem Umstand umzugehen, auch im Hinblick auf ihr eigenes Leben.
Regina Schlager, 27. November 2015
Ein toller Artikel, der dazu anregt, die eigenen Ambivalenzen auszuloten. Einfache Antworten gibt es hier nicht.
Franca, 9. Dezember 2015
Einmal mehr machst du dir viele gute Gedanken und teilst sie ehrlich mit. Um es gleich vorwegzunehmen, das zeichnet dich aus. Das Abwägen, die Unsicherheit, das Dilemma, die Wünsche an das Leben – all das offen zu legen braucht Mut.
Ich seh es so: wenn du aktiv an der Gesellschaft teilhaben möchtest, ist es sicher eine Erleichterung, gut zu hören. Das spricht für ein Hörgerät. Die Alternative wäre der Rückzug in die Kontemplation. Da seh ich dich zwar teilweise auch, aber nicht nur, du bist zu gern mit anderen Menschen zusammen.