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Salz des Lebens 

3. Dezember 2020, Jürg Messmer

Eine weitere schlaflose Nacht. Albtraum. Der Dream-Catcher fehlte. Es ist ja auch eher ein Wach-Angst-Traum. Schrecken ob aller Menschen, die sich inzwischen von mir zurückgezogen haben, schweigen. Ich weiss, ich habe entschieden, zu gehen. Jeder Schritt ist eine Entscheidung. Ich werde morgen den Covid-19-Test machen und am Sonntag ins Flugzeug steigen, obwohl beides mir gegen den Strich geht. Es ist eigenartig. Ich wollte ja der Zerrissenheit entfliehen, die mein Leben in der Schweiz bestimmt hatte. Der ewig Verwirrte, der Bittgänger um Aufmerksamkeit und Zuneigung. Immer im Zug unterwegs, im besten Fall zu Fuss, um an Orte zu gelangen, zu Nestern Zutritt zu erhalten, die sich viele gebaut haben. Ich, der ich noch nie ein “dauerhaftes” Nest gefunden habe. Nichts gebaut, da ich immer nur Sand fand. Ausser in gewisser Weise im Obstgarten, am Zanggerweg, oder beinahe in Einsiedeln. Ja, da hat einiges gestimmt. Trotzdem ging ich weiter. Meine Füsse kamen nicht zum Stand.

Hier in Amsterdam bin ich wieder mitten in einem Strudel. Auch da ein Abschied, nach fast 50 Jahren. Auch wenn der Abschied irgendwie virtuell scheint, so ist Guatemala einfach weiter weg. Und unklar, ob, wie und wann ich “zurückkehre”. Auch mein Retour-Ticket ist keine Garantie. Irgendwie bin ich müde. Ich kann nur wieder mal sagen, dass mir all das Leid tut. Ich fühle die Schnitte, als wären sie Schnitte durch meine Seele. Auch dass ich diesmal nicht einfach so gehen konnte, sondern alles gut vorbereiten musste, was nicht vorbereitet werden kann, es alles langsam und bewusst durchstehen und durchlaufen musste, es dann auch so wollte, hatte ich so nie geplant. Doch es ist und bleibt so, dass ich einfach nicht genug Platz sehe, um überall meine fixen Zelte aufzustellen. Ich kann weder mit materiellem Besitz noch mit institutionalisierter Sicherheit gut umgehen. Beides verwirrt mich, erdrückt mich. Wie auch die Verantwortung, die ich immer wieder auf “mir” spüre, trotz vieler Gründe, das Gegenteil zu beschwören.

Gott sei Dank hat mir Csilla gestern gesagt, dass ich viel ruhiger geworden sei, mich verändert hätte. Ich brauche das, denn fühle ich es nicht so. Derselbe Tumult, dieselbe wilde Energie, wie immer. Doch es ist so, dass meine Schritte klarer und ruhiger geworden sind. Meine Feinmuskulatur ist geübter, komischerweise obwohl ich in den letzten Monaten, bald schon Jahren, nicht mehr so viel gelaufen bin, kein “Yoga” mehr gemacht habe, wenn auch auf andere Art. Gestern realisierte ich, dass ich bereits seit mehr als anderthalb Jahren auf Reisen bin. Als ich damals hier nach Amsterdam kam, um von da nach Hamburg mit dem Frachtschiff nach Halifax, und zu Anna nach Michigan zu gehen, hatte ich mir eine Abschiedsreise vorgenommen. Bewusst meines Alters, meiner Zerrissenheit, wollte ich die letzte Reise antreten, Klarheit schaffen. Und das ist jetzt alles viel konkreter geworden als ich es mir jemals hätte vorstellen können. Ich ging dann ja auch noch nach Guatemala, und da geschah es. Wieder mal hatte ich einen “Schub", wie das “Nervenschwache” (oder Menschen, die sich schwer abgrenzen können) immer wieder haben. Doch inzwischen wusste ich, dass das einfach Teil von mir ist, Teil meiner “DNA", der Bedingungen, die jedes Leben, jede Form, hat.

Ich bin noch nicht in Guatemala. Noch ein paar Tage. Immer wieder blicke ich zurück, obwohl ich Gefahr laufe, zur Salzsäule zu erstarren. Sollte das passieren, so hoffe ich, es ist eine schöne Säule, ein Kunstwerk, und dass das Schlecken des Salzes so manchem das gibt, dass er oder sie gut brauchen kann. Das Salz des Lebens.

PS: Die Erstleserin dieses Textes hat gemeint, dass sie nicht das Salz meiner Säule schlecken würde, und ich musste lachen. Danke für das Lesen und das Feedback. Auch für die Frage, ob ich mich in meinen Texten nun nicht einfach ganz um mich selber drehen würde. Jein. Ich werde das umgehend wieder als Thema verwenden und mich weiter drehen :-) "Drehen um sich selbst"

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