Unter die Haut
8. Juli 2020, Jürg Messmer
Seit ich hier in Irland, im Hafen von Dublin, angekommen bin, regnet es fast immer. Zwei Tage lang hatte sich zwar ab und zu kurz die Sonne gezeigt und das Gemüt erhellt, doch am Tag meiner Ankunft, und nun wieder seit zwei Tagen, regnet es ununterbrochen. Keine Sturzbäche, die auf das Dach trommeln, und sowas wie eine besinnliche Stimmung erzeugen können, doch ein konstanter Nieselregen, der bis in die Knochen dringt. Das Beste wäre, ich würde nach draussen gehen, doch als Reisender bin ich einfach nicht für jede Wetterlage gerüstet, meine Ausrüstung hat sich ja auf die Jahreszeit meiner Reise - an der Vorstellung von Sommer - ausgerichtet :-)
Man kann durchaus sagen, dass ich vom Regen in die Traufe gekommen bin. Doch bei meiner Lebenserfahrung stört das nicht allzu sehr. Ich bin es gewohnt, dass die Dinge nicht so passieren wie ich sie mir vorstelle, das habe ich ja schnell einmal gelernt. Ich wusste nie, was ich wollte, vielleicht einfach, weil - wenn ich mal etwas wollte - es nie so kam, wie ich es mir vorgestellt hatte, und wenn, ich dann gleich immer schnell mit dem Erreichten wieder unzufrieden war. Ein Genfehler vermutlich. Also schien klares Wollen keine ausreichende Voraussetzung zu sein, auch weil das Leben sehr unbeständig - lebendig! - ist, vor allem unter der Haut, und es erst an der Oberfläche, in der Erinnerung, eine etwas beständigere Formen annimmt.
Hier in Irland ist alles etwas anders. Es ist nicht die Schweiz. Aus der Sicht von dieser Insel scheint fast alles perfekt zu sein in der Schweiz. Die Dinge funktionieren. Wir sind da effizient und zuverlässig. Und das beinahe gnadenlos. Aber auch humorlos, sagt Sinead, die Irin, die die Schweiz kennt. Sie hat nicht unrecht. Perfektion und Effizienz sind nicht grad Grundbedingungen für einen ausufernden Humor. Den braucht man ja dann auch nicht, da alles in Ordnung ist. Oder doch?
Hier muss man die Perfektion nicht fürchten, schon gar nicht zu Zeiten des Coronavirus. Ich glaube, einige Menschen können besser zu sich stehen, manche sich endlich abgrenzen, was sie vorher nicht konnten. Man kann sich ja auch hinter dem Virus verstecken, oder sich an ihm aufrichten. Das Widersprüchliche des Menschen zeigt sich viel klarer. Wie überzeugt können wir doch punkto unserer Haltung zum Coronavirus sein, um uns dann im nächsten Moment gleich wieder völlig anders zu verhalten. Ausser ein paar perfekt konsequente Ausnahmen, die natürlich grundsätzlich recht haben, mir aber keine besonders angenehmen Zeitgenossen sind. Sie machen mir mehr Angst als das Virus selber. Vielleicht deshalb bin ich konsequent widersprüchlich.
So habe ich eigentlich keine Angst - auf den ersten Blick - vor dem Coronavirus. Jeder und jede kann mich umarmen, wenn sie dies möchten, gerne! Oder mir die Hand geben. Das schätze ich. Wenn jemand auf Distanz beharrt, dann akzeptier ich das, auch wenn ich das aus meiner Sicht nicht so ganz verstehe, und wenn sie mir dann kurz darauf gleich wieder zu nahe kommen, so muss ich höchstens schmunzeln. Im schlimmsten Fall weise ich sie genüsslich auf diesen Widerspruch hin. Doch andererseits weiche ich allen aus, die ich nicht kenne. Wenn wir auf dem Gehsteig aufeinander zugehen, dann bin ich der erste, der auf die Strasse ausweicht, auch wenn ich hier an dieser schnell befahrenen und engen Strasse zwischen Dorf und Haus dabei schon fast das Leben riskiere, vor allem weil die Autos hier ja von hinten kommen, wenn ich sie von vorne her erwarte. Das hat mich zuerst mal sehr erschreckt. Doch stärker ist mein Gottesvertrauen, das Vertrauen in das Schicksal – eine Strategie, die mir mindestens genau so sicher scheint wie jede andere.
Auf der Fähre nach Irland ertappte ich mich dabei, dass ich dem einzigen Fussgänger-Mitpassagier zum Abschied have a safe trip zurief, obwohl ich ihm ja lieber eine spannende Reise gewünscht hätte. Welch ein Durcheinander – das kann ja nur schief gehen, schlimmer kann es fast nicht werden. Doch gut, das ist ja auch eine perfekte Ausgangslage, dass das Glück unerwartet auf Besuch kommen kann. Ein beliebter Gast. Doch allzu lange soll auch dieser dann nicht verweilen, sonst weiss ich schnell wieder nicht mehr weiter. Der Strand des Glücks. Im Glück gestrandet.
Zu hören, dass es in der Schweiz sonnig und warm ist, hat mir schon einen Schlag versetzt, und ich habe wieder kurz an meinem Verstand gezweifelt. Doch mein Verstand ist eine ziemlich launige Veranstaltung und nur scheinbar zu rationalem Denken fähig. Ich bin schnell darin, alles wieder umzudeuten, und die Gedanken an die Realität anzupassen. Fast schon sowas wie ein positiver Denker.
So sass ich denn im Schutz des Vordaches meines Gästehäuschens, rauchte meine Zigarette, trank meinen “Kaffee”, umgeben von kalter Feuchtigkeit und den grauen Farbtönen der düsteren Umgebung, zögerte etwas, versuchte, das Zusammenspiel von Gemüt und Wetter, von Innen und Aussen, zu durchdringen, und erwachte! Frohgemut ging ich gleich zum Frühstückszimmer im grossen Familienhaus, begrüsste meine Gastgeberin und meinte, was für ein Glück wir heute mit dem Wetter hätten, meine Freunde in der Schweiz würden unter Sonne und Temperaturen bis 29 Grad leiden. Sie lachte. So schnell ist schlechtes Wetter wieder weg.
Ich bin keineswegs ein stabiler positiver Denker. Angesichts des Frühstücks, das am ersten Tag aus zehn Scheiben Toast, Butter und Konfi bestand, schlug mir dessen Anblick gleich etwas auf den Magen - obwohl die Auswahl von Leckerem in normalen Zeiten in diesem Gasthaus ja anständig wäre. Doch ich wagte es nicht, frei vom Frühstücksmenu zu wählen, weil ich der einzige Gast war und man die Mühe ob diesem einzelnen Kunden am Gesicht der Gastgeberin ablesen konnte. Ich kann sie ja verstehen. Auch ist die Auswahl sehr Wurst- und Eierlastig. Und die Vermutung lag nahe, dass es sich bei den Legehühner von solchen aus Massentierhaltung handelte, als ich mich etwas verzweifelt für die Scrambled Eggs entschied. Mindestens 4-5 Eier müssen das gewesen sein. Einfach ein schwerfälliger Pudding von trockenen faden Eiern, ohne Salz, serviert auf zwei weiteren Scheiben Toast. Selbstverständlich ass ich alles. Was wir uns hier gemeinsam eingebrockt haben, muss ich auch mit ausbaden. Es bleibt nur die Hoffnung, dass ich mit etwas lebendiger Fantasie die Nebenwirkungen neutralisieren kann.
Als ich am nächsten Tag trotzdem das Müsli zu bestellen wagte, kam sie gleich zurück und zeigte mir etwas beschämt die fast leere Büchse mit der Müslimischung. Also bestellte ich, wiederum in Nöten, den French Toast mit Honig, in der Hoffnung, dass dieser so wie der von Anna schmeckt, den ich immer geliebt habe. Doch auch das waren karge Toastscheiben und ein hausgemachtes schweres Brot, das irgendwie einen Hauch von Eiern abgekriegt hatte, doch es hatte nichts von dem an sich, was ich an einem knusprigen, leckeren French Toast so schätze. Gott sei Dank hatte ich den Mut gehabt, nur eine halbe Portion davon zu bestellen, obwohl ich auch da befürchtet hatte, dass sie dies als Kritik auffassen könnte.
Am dritten Tag habe ich dann gefragt, ob ich etwas weniger Brot haben könne. Ich würde Brot zwar sehr lieben, doch unter den anforderungsreichen Reisebedingungen würde es mir eben langsam aufliegen, und der Gluten könnten mir dann schon zu viel werden. Ich, der ich normalerweise Gluten liebe! Jetzt erst verstehe ich Leute, die an Glutenunverträglichkeit leiden.
So hat sie mir dann ein Müsli gemacht, aber halt nicht das, was ich zu Hause kriege. Ich bat um einen Apfel, und sie fragte, ob ich auch gerne Beeren dazu hätte. Sehr gerne, antwortete ich beglückt, worauf sie mir ein Schälchen mit weiss angelaufenen, tiefgefrorenen Beeren brachte. Schwierig. Ich zerschnitt diese und mischte sie unter das Müsli, in der Hoffnung, dass diese noch auftauen und ihren Geschmack entfalten würden, doch auch nach zehn Minuten waren sie noch kalt, schmerzten meine Zähne und … schmeckten nach Rein. Gar. Nichts. Gastfreundschaft zu Zeiten von Corona. Dazu Tee, Gott sei Dank. Da kann fast nichts schief gehen. Der Kaffee ist ja dieser gefriergetrocknete, der entweder zu dünn oder dann gleich zu bitter ist. Die Milch lässt sie mir im Kännchen im Zimmer stehen. Sie ist dünn, von jeglicher meiner Vorstellung von Milch entfremdeter Natur, und kann der dunklen Farbe des Gefriergetrockneten Gebräus kein Lächeln in Form von Helle entlocken oder dem bitteren Geschmack etwas Milde beibringen. Es wäre wirklich zum Verzweifeln. Doch ich gebe mich dem Schicksal hin. Sie haben ja alle recht. Und ich muss lächeln. Ja, es ist wahrlich nicht perfekt.
Aus meiner Sicht kriegt man, was man verdient. You get what you deserve, you deserve what you get. Ich meine das nicht moralisch - ausschliessen will ich die Moral jedoch nicht - doch eher sowas wie: Lebe damit, dann kommt’s gut. Manchmal ist es schlecht, manchmal gut. Manchmal süss, manchmal sauer. Good thing, bad thing, you never know. Und manchmal sitzt man eben in der Scheisse, wie ich jetzt, im Nieselregen von Irland.
Ein Freund hat gestern geschrieben, dass ich ja schon zäh sei, und stur. Er hat ja recht. Doch ich sehe es einfach etwas anders. So schrieb ich ihm: Als bipolarer Mensch bin ich mit der dualen Natur des Menschen, ja des Lebens, sehr vertraut, mit dem Rauf und Runter, dem manchmal stockenden Rein und Raus der Atmung. So muss ich denn nichts fürchten, für was immer ich mich entscheide, weil nach dem Regen bestimmt die Sonne wieder scheint. Die Chancen, dass es gut oder schlecht kommt, stehen 50 zu 50. Kurz zusammengefasst: mein Leiden am irischen Wetter ist sozusagen mein Ticket in den Himmel! Das meinte ich natürlich auch augenzwinkernd, doch wer mich kennt, auch todernst!
So ist nach meiner Erfahrung Erfolg nie garantiert. Ich war nie erfolgreich, nur erfolgreich darin, mir den Erfolg vom Leibe zu halten. Natürlich unter Verzweiflung und Scham, sonst würden die Leute ja noch denken, ich geniesse den Misserfolg. Das würde mich teuer zu stehen kommen. Immer schon dachte ich an die Konsequenzen meiner Handlungen und wurde mir schnell bewusst, dass ich kleine, holprige Wege den Autobahnen vorziehe. Bei weitem. Klar, mal im Rolls Royce chauffiert zu werden, oder am Steuer eines Stingray-Cabriolets zu sitzen, das kann ich ausnahmsweise schon geniessen. Kontrapunkt. Doch bitte keine Gewohnheit. Die ist tödlich.
Wenn ich also an die schönen Tage in der Schweiz denke, dann bin ich froh, hier in der Traufe zu stecken. Immer wieder dieses schöne Wetter, das geradezu von einem fordert, mit dem Leben zufrieden zu sein. Das ist schrecklich. Da ertrage ich den Dauerregen schon fast besser. Ich übertreibe natürlich, doch es liegt schon ein Körnchen Wahrheit darin. Das Schöne am Schlechten ist, dass es die Fantasie anregt, dass selbst das ewige Beklagen ganz CO2-neutral ist, und dass es nur besser werden kann. Wenn alles gut ist, dann kann es nur schlechter werden. Das sieht man ja klar bei vielen “reichen” Leuten, die sind ja oft schon arg damit beschäftigt, ihr Glück zusammenzuhalten, so dass es manchmal scheint, als dass die Angst der gut Gesicherten gar grösser ist als die derjenigen, die ungesichert durchs Leben stolpern. Eine gewisse Gerechtigkeit kann man dem Leben – trotz gegenteiliger Befürchtungen – nicht absprechen, wenn man genauer hinschaut, sozusagen unter die Haut. Das ist auch Selbsterkenntnis, entspringt nicht nur der Beobachtung am fremden Objekt. Ich bin ja selber ein versicherter Unsicherer, einer der von beiden Seiten das jeweils Gute und Schlechte abkriegt. Etwas unbestimmter vielleicht, gemischter, doch summarisch identisch, Glück und Leid.
Inzwischen habe ich mich auf das Coronavirus gut eingestellt. Es ist ja nicht das Virus selbst, das mich sehr beschäftigt, sondern nur seine massiven Nebenwirkungen. Noch nie hat es solch allgemein gültige Strategien für ein Problem gegeben. Die ganze Welt ist für ein Mal geeint und gewappnet, dank Wissenschaft, Statistik und schnellen Datenverbindungen. Selbst in Guatemala, wo die Strassen schlecht, Korruption offiziell anerkannt und der Überblick schwierig ist, ist dank schnellen Datenleitungen klar, wie viele Tote es denn gibt, und an was sie grad gestorben sind. Ich bin also gezwungenermassen flexibel auf klare Unklarheit eingestellt. Trotzdem habe ich Hoffnung, weil die Zukunft viel versprechend ist. Und da ich selber Versprechen möglichst immer halte, so glaube ich auch, dass Versprechen grundsätzlich gehalten werden. Manchmal auf verschlungenen Wegen. In überblickbaren Leben mit klaren Anfängen und Enden kann man das jedoch nicht bemessen.
Meine Meinung nur, meine bescheidene. Zusammengestiefelt aus ungeordneten Eindrücken, die ich immer wieder einfach in luzide Theorien verwandle, die dann - zum Glück - scheitern, bevor ich sie richtig der Menschheit angedeihen kann, und an meiner eigenen Konsequenz leiden muss. Die Endlösung ist mir Gott sei Dank nicht klar. Ich will auch nichts von ihr wissen, denn dazu liebe ich das Leben zu sehr, auch wenn ich manchmal sehr verzweifle. Doch wer will schon Zucker und dazu Salz, unter dem sich nur weiterer Süssstoff versteckt? Wenn schon Salz, dann richtig. Auch Bitterstoffe sind ja wichtig, und bereichern die Süsse. Enriched Flavor Process.
Passt irgendwie, Katy Keene: "Kiss of a Spider Woman"
PS: Hören und Fühlen, wer weiss schon, wo das eine aufhört und das andere beginnt. Oder ob mit Muskeln spielen mit Gedanken spielen ist. Heisst weniger hören mehr fühlen, oder sehen?
Inzwischen scheint wieder die Sonne, ein paradiesischer Genuss! Doch wenn ich mir eine Zigarette anzünde, um das unerwartete Glück zu feiern, dann ist sie gleich wieder weg! Nein, es ist noch nicht perfekt, doch wir arbeiten daran.
Es ist als wenn mir Gott mit Simply Red in meine tauben Ohren flüstern würde: "If You Don't Know Me By Now"
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