Sprachlos, auch geschmacklos?
30. Juni 2021, Jürg Messmer
Sie strahlte und sagte, sie hätte sich grad das erste Mal impfen lassen.
Warum genau ich da gleich sagen musste, dass ich mich nicht impfen lassen möchte, ist mir ein Rätsel, aber ich habe es gesagt. Nicht einmal meinem eigenen Mund kann ich den Mund verbieten! Der hat seine eigenen Regeln. Denn auch beim Essen bin ich ja auf seine Eigenständigkeit angewiesen. Ich will etwas probieren, doch der Mund sagt nein. Warum genau, weiss ich nicht, doch ich schätze eben diese Eigenständigkeit. Bisher habe ich gute Erfahrungen damit gemacht. Ich lebe ja noch, und gut. Oder etwa doch nicht?
Sie: "Warum willst du dich nicht impfen lassen, wenn du weisst, dass 3-4 von 100 an diesem Virus sterben werden?"
Ich denke, woher hat sie diese Zahlen schon wieder? Und sage etwas entsprechendes. Doch wenn ich argumentieren muss, dann komme ich immer etwas ins Stottern, denn ich bin keiner, der nun wirklich klar denken kann, wie das so viele können. Mein Denken ist wie, na ja, ich kann es nicht wirklich beschreiben. Ich kann ja nicht denken, und dann dabei dieses sich selber noch beschreiben lassen. Das verwirrt mich.
Sie: "Isst du gesund?"
Bereits wieder etwas verzweifelt, nicke ich zögernd mit dem Kopf, obwohl ich es ja nicht genau weiss, doch verneinen kann ich diese Frage eben auch nicht. Und nichts sagen, das gehört sich schliesslich nicht. Man lässt andere nicht im Regen stehen. Ich esse einfach, was auf den Tisch kommt. Wenn ich es gerne habe, dann esse ich mehr, wenn nicht, dann weniger. Wenn dem Salat nicht bereits ein dicke süsse Sauce verpasst worden ist, dann ziehe ich Zitrone und Salz oder Olivenöl und Essig dieser "Sausse" vor. Ach Gott, wenn sich andere lieber mit solchen "Dressings" vollstopfen, dann ist das vermutlich deren Sache. Zu viel Fleisch esse ich auch nicht, da spielen viele Fragen eine Rolle, die sich auf meinen Geschmacksinn auswirken, auch dass das Fleisch zwischen meinen alten Zähnen stecken bleibt. Ist eine komplexe Geschichte, dieser Geschmackssinn. Selbst den etwas geschmacklosen Salatblätter kann ich eben Geschmack abgewinnen. Immer noch schmecke ich gerne, auch wenn ich vermutlich nicht mehr so gut schmecke.
Sie "Du isst also gesund, trägst dir Sorge?"
Schon wieder diese Fragen... und ...
"Treibst du Sport?"
Nein, nicht wirklich, wenn man mal vom Rauchsport absieht (denke ich jetzt). Doch ja, vermutlich meinst du dies, ich sage es also: "Ich tanze viel, fast täglich, und praktiziere Yoga, auch das regelmässig, und bin viel zu Fuss unterwegs".
Sie: "warum?".
Wieder sprachlos, sage ich völlig undifferenziert: "weil ich es gerne mache, es gefällt mir". Und es hilft mir, meine 5-6 Sinne in Gleichgewicht zu halten (kommt mir aber - wie immer - erst später in den Sinn).
"Also, warum lässt du dich nicht impfen, wenn du genau weisst, dass es gesund ist, dass du nur so sicher überleben wirst?".
Nein, das weiss ich eben nicht. Doch das habe ich nicht gesagt. Auch nicht, dass ich lieber lebe, als überlebe. Ich schwieg. Und sie liess es dann auch bald bleiben.
Es sind herausfordernde Zeiten. Man kann sich bald nur noch bewegen, wenn man einen Impfpass hat, oder wenigstens vor jedem wichtigen Besuch oder einer Reise einen Test macht, um zu beweisen, dass man nicht infiziert ist und niemanden anstecken kann. Zum Glück ist das hier in Guatemala noch nicht so. Ist ja ein "Entwicklungsland". Hat also noch Entwicklungsmöglichkeiten.
Wehmütig denke ich daran zurück, als man sich bei Schnupfen noch frei umarmen konnte, ohne denken und befürchten zu müssen, angeklagt zu werden, jemanden angesteckt zu haben, und verantwortungslos zu sein. Ja, das ist schon lange seither. Vor Jahren schon haben einige begonnen, zu sagen, "ich bin verschnupft, ist besser, wir umarmen uns nicht". Ich hatte dann immer geantwortet, das störe mich nicht, "so leicht bin ich nicht anzustecken, und wenn, dann ist es auch nicht schlimm". Und ich umarme einfach gerne, nicht immer, aber oft. Bereits damals hatte ich es nicht gecheckt, dass manche vielleicht gar nicht umarmt werden wollen, und der Schnupfen grad zur rechten Zeit gekommen war.
Nun sagt mir bitte nicht, ich solle Covid-19 nicht mit einem Schnupfen vergleichen! Nein, das mache ich nicht. Die weltweiten Auswirkungen dieses Virus sehe ich ja täglich klar vor meinen Augen. Vor allem, wenn ich sehe, wie viele die letzten weltweiten News checken, um über den hinterletzten Fall informiert zu sein, so dass sie sich zu recht Sorgen machen müssen, oder dürfen. Ist schliesslich ein Menschenrecht, sozusagen Pflicht.
Doch weil ich die Welt nicht verstehe, oder das, was sie im Innersten zusammenhält, so weiss ich auch trotz aller Informationen nicht, was nun wirklich Sache ist. Ich weiss nur, was mir gefällt, und was eben nicht, und selbst das ändert sich. Das ist natürlich kein wissenschaftlich erfassbares Argument, und lässt sich eben auch kaum behandeln. Und es ist egozentrisch, wenn ich denn dieses Wort genau verstanden habe. Sprache ist meine Sache nicht.
Also ja, wenn ihr es besser wisst, so sagt mir, was ich tun muss. Das verstehe ich, wenn es klar und deutlich ist. Doch dass ich es auch gerne haben soll und sagen, ja, ihr habt Recht, das verlangt doch bitte lieber nicht. Meine Geschmacksnerven kennen keine Befehlsanweisungen, genauso wenig, wie ich meine Gedanken und meinen Mund im Griff habe. Nicht einmal den Ohren kann ich sagen, was sie hören sollen, oder was nicht. Oder ist es das Gehirn?
Also sprachlos bin ich in dem Sinne, dass ich immer Mühe habe, die "richtige" Sprache zu finden, denn auch die kenne ich nicht.
PS: Natürlich denke ich über Gesundheit nach. Ich höre, sehe und denke, und gar "fühle", allerlei, doch die Art wie ich Gedanken verarbeite, ist genau wie beim Essen. Ich schmecke, ich esse oder esse es nicht, und dann lasse ich meinen Körper weiter entscheiden, meinen Magen, meinen Darm, halt alle Organe, wie eben auch das Gehirn. Wenn ich kotzen muss, dann kotze ich. Welche Rolle die Gedanken dabei spielen, das übersteigt meine Urteilskraft. Doch wenn ich zum Beispiel einen frischen Salat esse, dann habe ich manchmal das Gefühl, dass die Vitamine in meinem Körper explodieren, und jede Zelle durchdringen. Es passiert viel. Doch diese Vorfreude kommt beim Gedanken an die Impfung überhaupt nicht auf. Vermutlich ist es eigenartig, dass ich immer noch auf meinen Geschmack vertraue, da er doch nur mein eigener ist. Bei den Gedanken zu sagen, dass sie meine eigenen sind, da wird es schon schwieriger.
PS2: Es scheint, dass viele sich sicher fühlen, wenn sie sich impfen lassen, oder wenigstens das richtige zu machen glauben. Den Geschmacksnerven kann man eben nicht befehlen. Ist eine komplexe Geschichte.
PS3: Wenn ich an Gott denke, und ihn um Hilfe bitte, dann kommt mir manchmal in den Sinn, dass auch er hilflos sein könnte, und ich nur das Gefühl mit ihm teile. Welch ein Schwach-Sinn.
"Me gustas tú" (mit Text), Manu Chao
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