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Der vierte Monat - der Illusionist 

19. Oktober 2020, Jürg Messmer

Flucht-Szenarien

Heute Morgen wachte ich spät auf, um 7 Uhr, nicht sehr protestantisch. Es ging mir jedoch gut, obwohl ich bereits einen Teil meiner kostbarsten Zeit des Tages verschwendet hatte. Als Sinead in die Küche kam, zitierte sie etwas vor sich hin, als Text, doch ich hörte die Melodie sogleich und begann zu singen: "I can see clearly now, the rain is gone". Dass es Jimmy Cliff war, der das Lied zuerst gesungen hatte, kam mir nicht grad in den Sinn. Einfach glücklich war ich und spielte das Lied auf meinem Handy. Und wusste, es passte perfekt: ich "sehe die Hindernisse auf meinem Weg", "der Regen ist verschwunden".

Keine Sorge, den Regen und den Nebel werde ich schnell wieder vermissen, denn es gibt nichts schöneres, als wenn trüber Nebel von Sonne aufgelöst wird, oder die Wolken nach einem Regen einem klaren blauen Himmel weichen. Es ist das Leiden wert.

Es sieht ganz so aus, als ob das Thema des Monats "Illusion, Selbsttäuschung, und die Gefahr, die Kräfte der Realität zu unterschätzen" sein wird. Mein Thema. Ich liebe es, Tarot-Karten zu legen; seit ich 1983 in Kalifornien Georgie kennenlernte, die kleine, sanfte und sehr konzentrierte kanadische "Hippie"-Frau, die mich durch wilde Gemütszustände führte, indem sie einfach Karten vor mich hinlegte. Später, in diesem einzigartigen kleinen Holzhaus, das ihr Mann Lance in den Wäldern von Britisch-Kolumbien gebaut hatte, irgendwie schief und wunderschön. Ein Timberman - ein Holzfäller - war er, groß, stark und auch sehr sanft. Es war wunderbar.

Ich weiss, dass nicht viele Menschen solch "nutzlose oder gar gefährliche Wahrsagerei" zu schätzen wissen. Und als gut ausgebildeter oder - besser gesagt - gut konditionierter "Westler", der mit wissenschaftlichem Denken vertraut und von den Erleuchtungen der "Aufklärung" durchdrungen ist. Ich verstehe die Einwände, die Ängste und vielleicht gerechtfertigten Zweifel. Trotzdem liebe ich es, das Tarot zu legen, es ist als wäre es ein Gebet, das Spiel mit Karten, ein tiefes Nachdenken oder Meditieren über eine Frage oder eine Situation, ohne konkrete Vorhersagen einer Zukunft, sondern einfach Hinweise auf Aspekte, die ich sonst nie in Betracht ziehen würde - im Gespräch mit Freunden, Therapeuten oder einem Berater :-)

Aber natürlich könnte dies durchaus ein riskanter Ersatz für das Verfolgen von Nachrichten und "Fakten" sein, die auf weithin geteilte Perspektiven der modernen "angewandten" Wissenschaft basieren. Vermutlich ist es die Wahl einer verwirrten Person, eines Abenteurers in Not, der den schmalen Grat zwischen Vernunft und Hoffnung wählt, ohne Alternative in Sicht.

Deshalb hatten Sinead und ich begonnen, eine irische Version der Tarotkarten namens "Keltische Weisheit" zu legen, um die Muster unseres Verhaltens und unserer Emotionen in vergangenen und gegenwärtigen Beziehungen besser zu verstehen. Interessant. Ja, lächerlich vielleicht. "Das sind doch nur Karten!", sagte sie etwas zweifelnd, als wollte sie sich überzeugen, doch gleichzeitig etwas zitternd ob der angedeuteten Rüge einer gelegten Karte. Man kann es nie wissen.

Wir hatten einen komplexen Satz von Karten gelegt, den "Co-Walker Spread", mit 15 Karten auf dem Tisch. Ich will nicht mit Einzelheiten dieses Spiels langweilen. Aber die Karte Nr. 7 - auf Position genannt "Erwartungen" - war "Abenteuer der Kunst" und schlug vor, "Illusionen und Fantasien" näher anzuschauen. "Tagträume. Eskapistische Szenarien. Unrealistische Haltungen oder Erwartungen. Wunschdenken. Selbsttäuschung. Gefährliches Nachgeben von Launen. Sucht nach Substanzen..." und "...ungesunde Abhängigkeit von Wahrsagerei." Gott oh Gott, auf den Punkt gebracht! Doch keine Scham oder Überraschung auf meiner Seite. Ich sagte, das ist genau das, was es ist. Es gibt dazu nichts mehr zu sagen. Ja, ich bin wahnhaft, ein Eskapist - ich bin realistisch.

Du magst an solche Betrachtungen glauben oder auch nicht, und das Deck hat auch nicht direkt die ursprünglich beabsichtigte Klärung unserer "Situation", unserer Verhaltensmuster, gebracht, sondern hat irgendwie klar und deutlich auf Guatemala hingewiesen, obwohl nicht ganz klar, ob Guatelinda - wie einige Leute dieses Land nennen - der "wirkliche" Ort, oder ein Ort in meinem Herzen ist. Ich vermute, es ist derselbe. Normalerweise versuche ich, die Dinge einfach zu halten.

Heute Abend werden wir mit Karte Nr. 11 fortfahren. "Was Ihr Partner Ihnen gegeben hat".

PS: In der Zwischenzeit konzentriere ich mich mehr und mehr auf das Putzen. Nicht nur den Küchenboden. Ich habe gerade eben Teile des Daches und alle Dachrinnen und Abflussrohre gereinigt. Gute und nützliche Arbeit, die auch viel Aufmerksamkeit erfordert, wenn man vom obersten Tritt einer Trittleiter aus arbeitet (Leben ist Yoga :-). Ich habe auch begonnen, die Fenster zu putzen. Die Ostseite ist fertig. Ich werde weitermachen. Ich liebe das Putzen. Es hilft mir auch, über die Frage nachzudenken, die gemäss Tarot Seelenweisheit genannt wird: "Was wir uns vorstellen oder träumen, kann sich manifestieren, wenn wir ihm genügend Energie geben. Wenn wir jedoch die ausserweltlichen Kräfte zur Erholung oder aus Neugierde, ohne Verantwortung, einsetzen, kann uns das in Schwierigkeiten bringen. Was ist hier illusorisch und was ist symbolisch wahr?"

Jimmy Cliff und "I can see clearly now"

Mittwoch, 7. Oktober 2020, Wolken ziehen von Westen her auf und verdecken den klaren blauen Himmel.

Abwarten scheint angebracht

“Warten" ist schwierig, eigentlich gibt es das nicht, auch wenn manchmal das ganze Leben ein Wartezimmer zu sein scheint. Wie jetzt das Covid-19-Wartezimmer. Wir warten auf bessere Zeiten, doch manchmal sind wir dann schon fast enttäuscht, wenn der normale Wahnsinn wieder überhand nimmt. Keine Leitplanken. Warten ist interessant, so zwischen eben Vergangenem und dem Versprechen von Zukunft. Ein Schwebezustand. Liegt es nicht in meiner Hand? Die Türen der Vereinigten Staaten sind für mich immer noch verschlossen. Kein Signal, dass ich willkommen wäre, eher das Gegenteil. Mögliche Illusionen weichen Nüchternheit und der Frage, ob ich die USA einfach “links liegen lassen” soll. Dies ist immer noch schwierig, denn ich sehe noch keinen anderen Weg. Ich ziehe den langsamen vor. Es gibt viel zu verarbeiten und ich weiss, dass ich mich auf dem Weg zum Ziel verändere, und sich auch das Ziel immer wieder wandelt.

Weihnachten steht schon bald vor der Tür, die Herbstsonnenwende ist schon seit Tagen vorbei, die Nächte werden länger, die Tage kürzer, es wird kalt. Die Angst davor ist einer Gleichmut gewichen. Doch auch das kein Ruhezustand. Immer wieder erhalte ich Signale, dass ich doch zu Weihnachten in die Schweiz zurückkommen (oder gehen) solle, und immer wieder kommt Freude auf. Gemeinsam mit der Familie Weihnachtslieder und Beatles Songs singen. Wunderbar. Manchmal steigt eine tiefe Trauer in mir auf, und ich erstarre. Nein, mindestens bisher, macht ein Schritt “zurück” keinen Sinn. Ob dies Sturheit ist, oder Scham, Angst vor immer Gleichem, oder Ignoranz von Wirklichkeit, das sei dahin gestellt. Es ist ein reich gewürztes Gericht. Gestern haben wir über Transformation gesprochen, und wir beide waren unschlüssig ob dieses Begriffs, der oft so leicht verwendet wird. Metamorphose scheint passender, “evolutionäre Anpassung (einer Pflanze)”.

Manchmal habe ich fast ein schlechtes Gewissen, dass ich hier schon fast glücklich bin. Keine Ablenkung. Konzentriert. Auch bin ich versucht, zu sagen, wir sind ein Traumteam. Sinead würde mir gleich widersprechen, und auch ich bremse meinen leicht manischen Enthusiasmus mit “manchmal”, “oft” oder “nur auf Zeit” ab. Bremsen und Beschleunigen passieren intuitiv, und manchmal sind sie schwer zu unterscheiden, ein Bremsvorgang scheint manchmal gleich eine Beschleunigung einzuleiten. Es fliesst. Doch bitte nicht übertreiben. Sei Realist.

Also was macht ein Realist in dieser Zeit? Richtig, es “gelassen”, angehen, selbstverständlich. Und aufmerksam bleiben. Oder soll ich das Wort “achtsam” verwenden?

PS: die Zugvögel versammeln sich, wie jeden Abend. Es werden immer mehr. Bald ist es Zeit.

Noch immer der 7. Oktober 2020

Scherben bringen Glück

Wieder hat mich letzte Nacht ein Albtraum erschüttert, ich träumte und erwachte zur Erkenntnis, dass das, was ich in diesem Tarot so locker als Tatsache akzeptiert hatte - um es offensichtlich gleich wieder vor mir zu verstecken - mich plötzlich mit voller Wucht traf. Die Illusionen, auf die mein Leben gebaut ist, und dass ich meinem Gegenüber nur meine "Zögerlichkeit, Verantwortungslosigkeit, verunsicherte Instinkte, und blockierte Trägheit" gegeben habe. Ich war am Boden zerstört. Wieder stand ich erst spät auf, und ging etwas niedergeschlagen in die Küche. Da klopfte mein Verteidiger an die Tür, und sagte, keine Angst, wir werden deine Unschuld beweisen können! "Having respect for our Soul’s purpose may look like foolishness to others”. “What is calling you to seek wisdom now?”

So konnte ich - Gott sei Dank - wieder wie jeden Morgen meinen Pflichten nachgehen, mit Freude, oder wenigstens einem beruhigenden Pflichtgefühl (“life is duty” :-), und dem Wissen, dass nur stetiges Putzen dem Chaos einen Sinn abringen kann. Wieder ganz Protestant.

Gestern hat mir Joya ein Foto vom Tessin gesandt, aufgenommen aus der Sicht unseres früheren Ferienhauses, das inzwischen verkauft wurde, doch eigenartigerweise immer noch von “uns" - auf zusehen - weiter genutzt werden kann. Lange hatte ich - auf der Suche nach meinem Platz in der Welt - noch versucht, dieses Haus der Gemeinschaft zu retten. Ich versuchte, die verschiedenen unvereinbaren Meinungen in Einklang zu bringen, übernahm Verantwortung, begann, es einfach zu renovieren, hier und da zu streichen, etwas zu reparieren, kleine Schritte zu machen. Und ohne viel zu machen blühte etwas auf, mein Neffe machte mit, und auch mein Bruder Arnold war fast schon begeistert. Und ich überlegte, ob ich “mein Geld” in die Erhaltung dieses schönen Ortes stecken solle, da leben und einfach immer für eine Weile vereisen, wenn jemand anders das Haus für sich in Anspruch nehmen möchte. Die Idee gefiel mir sehr. Wie immer wilde Fantasien. Doch die Realität war stärker. Auch weil ich weiterhin kein Auto kaufen wollte, und merkte, dass ich auf die Dauer die 800 Höhenmeter runter, und wieder hoch, nicht mehr schaffen würde, um das Notwendigste unten im Tal einzukaufen, oder Leute zu besuchen. So verkauften wir das Haus, um dem ewigen Hin und Her, dem Schrecken ohne Ende, ein Ende zu bereiten.

Es war uns empfohlen worden, die grosse serbelnde Buche vor dem Haus zu fällen, so dass ein Käufer das Haus einfacher abbrechen und neu bauen könne. Der Baum wurde gefällt, mit grossen Kettensägen, Männern gesichert an Seilen, und einem Helikopter. Ein trauriger Tag, denn an diesen Baum hatte ich noch als Junge gebrünzelt, Wäscheleinen hatten wir an dessen dicken Stamm befestigt, im Herbst über die vielen Blätter geklagt, und vor allem über die ewigen spitzen Buchecker, die immer wieder in die Sohlen unserer nackten Füsse stachen. Doch konnten wir auch jeweils noch lange draussen sitzen, selbst wenn ein heftiger Sommerregen fiel. Und wir schätzten den Schatten in den paar heissen Sommertagen, den Lichtertanz von Sonne und Blätter auf dem Boden, an der Wand, und auf dem Tisch. Und der Blick von unten, wo die riesige Buche jedem Besucher zeigte, wo das Hexenhäuschen stand. Ein schöner Name.

Im Schatten dieses Baumes gab es Liebesspiele und Streit. Gesellschaftsträume, Grossfamilien und Freunde, die für eine kurze Weile in Eintracht zusammenlebten. Hans, der manchmal vorbei kam, zuerst schüchtern, um dann gleich kräftig zuzugreifen. Oder Frau Chelesia, die uns Holundersirup oder Brombeer-Konfi brachte, die sie aus den Früchten unserer Bäume und Sträucher zubereitete, weil wir das vernachlässigten, eben nur "Ferien machen" wollten. Es war immer eine grosse Freude, ein Respekt für diese rastlose, bald 80-jährige Frau, die nie sich zum Geniessen eines Getränks hatte niedersetzen wollen. Ausser vielleicht, als unsere Grossmutter noch am Leben war. 

Und vor ein paar Jahren hatten Sinead und ich an eben diesem Baum, an einem regnerischen Morgen, zwei Schnecken im Liebesspiel bewundert, die an einem Schleimfaden hängend sich langsam umschlingend befruchteten. Unter diesem Baum hatte auch meine träge Nachgiebigkeit in göttlichem Zorn zum ersten Mal eine Grenze gefunden.

In den letzten Jahren war da nur noch dieser Baumstumpf, gleich vor der Tür, der etwas im Wege stand, doch wie ein Tisch oft mit verschiedensten Fundstücken, mit Tannenzapfen in verschiedensten Formen und Grössen, speziellen Wurzeln oder schönen Steinen bedeckt war - oder Werkzeugen, die noch nicht versorgt worden waren. Nun ist dieser Tisch am Verschwinden, wie das Bild von Joya zeigt, er fällt langsam auseinander, und verwandelt sich in Schimmel- und andere Pilze, wird von Moosen verschlungen, und zeigt in leuchtendsten Farben seinen letzten Glanz.

Ein Krug, der zum Brunnen ging, bis er brach, und nun verschwinden langsam auch die letzten Scherben. Gestern beim Putzen der Dachrinnen und der Fenster auf der Ostseite des Hauses, habe ich noch die Scherben eines Pflanzentopfes aufgelesen, der am Boden lag. An Putztagen muss einfach alles seine Ordnung haben. Doch die Scherben eines anderen Topfes liess ich weiterhin liegen, weil Sinead ihre Gründe haben muss, und für mich zur Erinnerung dran, dass jeder Krug mal sein Ende findet, und die Scherben uns an dies erinnern.

Und der Töpfer ist glücklich, wenn er aus dem Lehm einen neuen Krug formen kann.

8. Oktober 2020

Morgendlicher Humor

Heute morgen hat mich der Wecker geweckt, der “Wecker” meines Telefons, und zwar wie befürchtet wie immer zu laut, weil ich noch immer keinen Weg gefunden habe, dessen Lautstärke zu verändern. Das ganze Haus wird ja geweckt! Zum Glück schläft Sinead wie im Koma, den Schlaf der Gerechten. Ich ging in die Küche um einen Kaffee zu machen. Wasser kochen, Milch wärmen, Lieblingstasse aus dem Geschirrspüler nehmen, und den gefriergetrockneten Kaffee aus dem Schrank. Heute bin ich arg am träumen, versunken in Gedanken, und mitten in einem solchen, der mich aufregt, lasse ich prompt das Kaffeeglas fallen, als würde die gleiche Träumer-Hand auch in der Wirklichkeit herumfuchteln. Das ganze gefriergetrocknete Pulver auf dem Boden verstreut. Scheisse! Weit herum verstreut, und gleich an meinen Finken klebend, suche ich eine Bratkelle, um das Verstreute wieder ins Glas zurück zu schaufeln. Und frage mich, wie der Kaffee wohl schmeckt, so vermischt mit allerlei vom Boden.

Zum Glück habe ich den Boden jeden Tag gewischt und immer wieder einen Teil nass aufgenommen. Kann den Boden praktisch abschlecken. Ich musste schmunzeln, als ich mich so wütend und verzweifelt in der Küche herumirren sah, und dachte, Gott muss Humor haben. Als hätte ich nichts mit dem zu tun, über den er sich lustig macht.

9. Oktober 2020

Das Gordische Bad

Vivian hat zu meinem letzten Bericht “der dritte Monat" spitz augenzwinkernd kommentiert, dass es scheine, dass ich “eitel im Gordischen Knoten verstrickt” bleibe, und ich musste lachen. Die Chefin der Didaktik hat es auf den Punkt gebracht. Ich bin mich im Moment etwas im Bade dieses Gordischen Knotens am suhlen, mich vom ersten Teil meiner Reise zu erholen, und vieles zu verarbeiten. Manchmal vermisse ich das heisse Bad sehr, das ich jeweils mit schlechtem Gewissen im Obstgarten genossen hatte. Ihre Bemerkung war auch etwas wie ein Wakeup Call, der auf fruchtbaren Boden fiel. Gestern hatten wir - nach fast einer Woche - unser Co-Walker Tarot fertig durchgearbeitet, meine letzte Karte war “Combat of Skills” (Kampf der Fähigkeiten), die Antwort auf die “Zukunft”, des “Wohin sich meine Beziehung entwickle" (Co-Walker), mit der weisen Frage “… Was ist der Kern von Wahrheit und Gleichgewicht in deinem gegenwärtigen Dilemma?”. Die keltische Geschichte, die zur Erklärung der Karte erzählt wird, handelt vom Durst nach Wasser, und der Herausforderung, dass die Hexe, das hässliche alte Weib, geküsst sein will, um ans Wasser zu gelangen. Die Chance dazu, dass man das mache, gemäss Geschichte 1 zu 4, also 25%. Doch wie immer ist Statistik ja nicht so meine Sache.

Was diese Karte genau in meiner Situation bedeutet, kann ich nur erahnen, vieles kommt mir dazu in den Sinn. Doch etwas Konkretes drängt in den Vordergrund: vielleicht muss ich die Kröte schlucken, und direkt nach Guatemala reisen. Damit rückt auch die Frage wieder näher, ob es Zeit ist, damit aufzuhören, den gordischen Knoten zu entwirren und den Fäden zu folgen, sondern den Knoten mit einem entschiedenen Schnitt zu durchtrennen. Im Umgang mit Schwertern bin ich jedoch immer wieder ängstlich. Ich habe Angst vor den Konsequenzen, und den genauen Punkt treffe ich oft nicht. Doch im impulsiven Schnitt kenne ich mich aus, und werde den Schnitt voraussichtlich trotzdem machen. Fehler sind ja erlaubt, wenn nicht gar unerlässlich.

Das Tarot hatten wir ursprünglich auf Initiative von Sinead gelegt, in der Absicht, unsere Beziehungsmuster, zwischen Frau und Mann, besser zu verstehen, auch unser Co-Walking jetzt in ihrem “Kloster”. Dass sich die Karten dann ganz auf meine Situation ausrichteten, war mir peinlich. Ich konnte es nicht abwenden. Immer schon habe ich mit ja auch Aufmerksamkeit gewünscht, sie jedoch auch gefürchtet, wie der Teufel das Weihwasser. Ich habe dann Sinead darauf angesprochen, wie diese Situation jetzt auf sie wirke, ob sie trotzdem oder gerade deswegen eine Antwort auf ihre Frage erhalten habe. Erst hat sie etwas widerspenstig gesagt, es geht um dich, und nicht um mich! Doch kurze Zeit später konnten wir darüber in Ruhe zu reden, und einen etwas weiteren Blick auf die Fragen zu werfen. Danke Sinead, for your dedication.

In den letzten Tagen hat es mich sehr beschäftigt, dass ich keinerlei Reaktionen mehr von meinen Freunden erhalten habe, die ich in WhatsApp-Gruppen auf meinen letzten “Bericht” aufmerksam gemacht hatte. Vielleicht ist es Sprachlosigkeit, die Müdigkeit, ein Kompliment machen zu müssen. Die Angst, mich zu kritisieren, oder einfach der Mangel an Interesse. So habe ich es denn geschätzt, als ein Freund mir schrieb, dass er meine Texte nicht lese, er sei kein Freund von Einwegkommunikation. Dafür habe ich volles Verständnis. Ich bin also daran zu überlegen, dass ich nicht mehr auf meine Texte aufmerksam mache, nur noch in einzelnen Fällen direkt, wie ich es auch jetzt schon öfters mache. Doch auch da erhalte ich manchmal keine Antwort. Doch ich weiss, dass auch ich mal eine Antwort "schuldig” bleibe. Auch das ist eine Antwort.

Vielleicht ist es ja auch die Distanz, das Schiff bereits zu weit weg, als dass man sich noch zuwinken könnte oder wollte. Wir alle wollen uns schnell wieder unseren täglichen Freuden und Pflichten zuwenden. Es wird Zeit, das Bad zu verlassen, das Wasser wird langsam kalt. Ob lauter Baden hätte ich fast vergessen, dass Greg heute Geburtstag hat. Auch meine Schwester Marianne, wie jedes Jahr. Es ist Zeit aufzustehen.

Samstag, 10. Oktober 2020

Wolkenberg

Ich sass in der Küche, wir sprachen über unseren Spaziergang ins Dorf, um noch Vergessenes einzukaufen - über den Tullow Hill, vorbei am St. Patricks Cemetery, und über die ruhige Strasse, auf der einen Seite die Häuser, die manchmal allein und manchmal in Reihen stehen, auf der anderen die weiten Weiden und das Haus, von dem Sinead mal geträumt hatte. Ich war eigenartig angespannt, etwas in Gedanken versunken, scharfe Schwerter und verwickelte Knoten waren wortlos dabei. Sinead stellte das Radio ab und es war, als wären vertraute Gäste einfach plötzlich verschwunden. Eine Leere, die jedoch bald einer willkommenen Ruhe Platz machte.

Ich beobachtete die Wolken, die schnell - wie in einem Film - vor dem Küchenfenster vorüberzogen, wie Berge, scheinbar ohne ihre Form zu verändern, trotz starkem Wind. Der eine grosse Wolkenberg erinnerte mich an den Gemsfairenstock, einen eigenartigen 3000 Meter hohen Berg im hinteren Glarnerland, bereits im Kanton Uri. Oben flach, mit Blick auf den nahen Tödi, der Perle der Innerschweizer Alpen. Beliebt ist dieser Stock unter Skitourengängern, bekannt für seine langen Abfahrten, mit etwas Glück ohne Spuren im Schnee.


Blick vom Gemsfairen Gipfel auf den Tödi

1800 Höhenmeter durch abwechslungsreiches Gelände, mit freiem Blick aufs das tiefliegende Tal, oft bereits im Schatten der Nachmittagssonne, und auf die gegenüberliegenden Felsspitzen. Wenige Bäume aber oft Büsche, die offene Schneefelder unterbrechen und einem zu kurzen Schwüngen und ab und zu ungewollter Akrobatik zwingen. Immer ist es wieder wie fliegen, orgiastisch. Ich fahre dann los, gelockt vom Versprechen, ignoriere die Tatsache, dass ich die genauen Verhältnisse nicht kenne, da ich ja über genügend Erfahrung verfüge, um zu improvisieren und mich aus Schwierigkeiten zu retten, und wenn es mal passiert, dass ich auf die Schnautze falle, so vertraue ich darauf, dass ich das kann, ohne mich zu verletzen. Es tönt vielleicht eigenartig, doch darauf bin ich so gut vorbereitet, wie es nur möglich ist. Fliegen hat seinen Preis. Auch der, dass ich, wenn ich dann mal stürze, eine volle Breitseite abkriegen kann. Typisch Kamikaze! ruft vielleicht jemand, gar etwas hämisch, oder einige lachen. Es tut weh, auch die Scham ob meiner mangelnden Vorsicht, fehlenden Kontrolle, ob meiner Ungeduld, und meinem kindlichen Tatendrang. Aber auch die Freude darüber, dass ich etwas riskiere, und dann fliegen kann. Wer es kennt, kann darauf kaum verzichten.

Es macht mich auch sehr traurig, an diesen Berg zu denken. An Christoph und Regula, mit denen ich über viele Jahre Skitouren gemacht habe, und schönste Wochen bei gemeinsamem Einkaufen, Kochen, Tourenplanung und Abenteuern erlebt hatte, in Gemeinschaften, wie ich sie liebe. Es ist wahrscheinlich nicht übertrieben, wenn ich sage, dass ich die Jahre fast nach diesen Wochen gezählt habe. Zusammengewürfelt, und die Liebe zu den Bergen die einzig sichere Gemeinsamkeit - und das aufeinander achten. An Peter, diesen schwärmerischen, mit viel Selbstvertrauen beglückten Unternehmer, der irgendwie mal in mein Leben geschneit war und mir vertraut worden ist, mit dem ich diese Tour das letzte Mal gemacht hatte. Und vor allem an Yann, von dem ich nur noch wenig weiss, weil er sich seit langem vom Leben zurückgezogen hat. Lange habe ich ihn noch gesucht, doch er blieb “verschwunden”, hat immer wieder irgendwie abgewunken. In der Stille, auf der Suche nach einem Weg, einem Weg heraus, zurück, zum Frieden? Es tut auch dann weh, wenn man damit sehr vertraut ist.

Ich erinnere mich als wäre es gestern, als er mich damals aus der Klinik befreit hatte. Ich hatte, geknebelt von bewährt ruhig stellenden Neuroleptika, in der Klinik vor mich hin gedämmert und mit den Gliedern gezittert. Und er kam und sagte, lass uns gehen, Skitouren machen. Du musst hier raus. Ich war sogenannt freiwillig in der Klinik, obwohl ich auf anderer Antrieb eingewiesen worden war. Ich lachte etwas gequält grinsend, ob er das ernst meine, bei meinem Zustand, erstaunt und gleichzeitig erfreut ob dem Irrsinn seiner Idee, ob dieser unerwarteten Hoffnung. Er hatte keine Zweifel, und wir machten es. Es wurde eine Reise in eine andere Wirklichkeit, voller Energie, gewachsen aus Verzweiflung, Fürsorglichkeit aus vermeintlicher Egozentrik. Die ganze Woche war ich wie in einem Glückstaumel, obwohl ich keine Minute schlief und oft müde und sprachlos war, oft erschöpft weinte. Ein Energieschub trug mich über die Berge und Yann’s Hilfe, wenn er mir - langsamer - am Abend nach langem Aufstieg von der Hütte her entgegenkam, mir meinen schweren Rucksack abnahm und mich umarmte, und mich vor dem Umfallen bewahrte. Ich wusste nicht, ob ich es überleben würde. Es interessierte mich nicht. Ich war nur müde, traurig und glücklich.

Bald war ich wieder zurück in der Klinik nach diesen aufregenden Tagen. Doch diesen wilden unvernünftigen Ausflug habe ich nie bereut. Auf ewig bin ich ihm dankbar. Auch diese Gemsfairen-Tour hatten wir einmal zusammen gemacht, wie fast immer bei schönstem Wetter. Manchmal Wind oder kalte Stellen bei kurzen steilen Nordhängen, durch die man aufsteigen muss. Das letzte Mal hatte ich nach einem Anfangsschub bald ziemlich Mühe, ich spürte meine Lungen, die Höhe, die Schwere in meinen Beinen, und auch die Müdigkeit, immer wieder Berge hochzusteigen. Doch wieder hatte ich noch die Kraft für dieses eine Mal. Und auch da hatte es sich gelohnt. Eine Traumabfahrt, ein Wundertag, der wie so oft, sehr müde am Abend, in einer stillen Trauer endete.

Ich weiss, ich werde den Bergen treu bleiben, auch dem Allein-Sein, den Entscheidungen. Die Berge sind Teil von mir. So bin ich nun dran, den Berg zu besteigen, der seit Längerem immer wieder am Horizont erschienen ist, ohne zu wissen, ob dieser der letzte sein wird. Nun bin ich alt und weise genug, um vorher Steine abzuwerfen, ich habe nicht mehr die Kraft wie früher, Extralasten zu tragen, um zu trainieren, meine Schwächen zu überwinden oder die Last eines Schwächeren zu tragen, mich selbst zu beweisen.

Oktober 2020, geschrieben in der gordischen Badewanne, in Tullow, Irland

Maya - Stimme aus der Vergangenheit

Heute morgen bin ich vor 6 Uhr aufgestanden. Humor Gottes stand dieses Mal nicht auf dem Plan. Alles verlief ruhig, ich trank den Kaffee, rauchte meine Zigarette, während mein Computer aufstartete. Als ich begann, zu schreiben, sah ich plötzlich, dass ein Kommentar auf meiner Webseite gemacht worden war. Spam, russische Kryptik mit Link? Nein, es war eine Stimme aus der Vergangenheit. Sie hatte aus irgend einem Grund an mich gedacht, und mich in Google gesucht und meinen Blog gefunden. Ich habe ihn gleich freigeschaltet. Sie schrieb "Bist du der Jürg der meiner Tochter vor 30 Jahren einen Holzelefanten geschenkt hat? und  “...nicht wissend ob du das bist(,) in deinen alten Texten hängen geblieben(,) bis zu dem Satz vom sterbenden Kätzchen und den Konflikten mit den 2 anderen die bereits da waren.

Maya, wie die Mayas, wie Illusion, eine Stimme aus der Vergangenheit. Der Kontakt war “verloren” gegangen, weil ich nicht damit umgehen konnte, mit allen Emotionen, mit den Konflikten dieser Zeit. Wir hatten eine spezielle Beziehung, beide waren wir auf unsere Art wild und widerspenstig. Immer werde ich mich erinnern, wie wir einander die Schuhbändel schnürten, wann immer die des Anderen lose waren. Jeder im Dienst des Anderen, jeder wie die Mutter oder der Vater, die dem Kind die Schnürsenkel binden. Ich schrieb ihr umgehend, und eben jetzt kam ihre schnelle  Antwort, sie schrieb zum Schluss "das mit den Schuhbändeln könnten wir ruhig beibehalten(,) allerdings weniger zu Diensten(,) mehr zur Freude des anderen.”

Damit bin ich mehr als einverstanden.

Sonntag, 11. Oktober 2020

Die Quelle

Ein alter Freund und Wegbegleiter hat mir zwei Bilder gesandt. Kryptisch, nur Ausschnitte, das Motiv nicht genau zu erkennen, und dazu einen kurzen - für mich ebenfalls nicht leicht verständlichen - Text. Seine Botschaft erschreckte mich, vor allem weil ich Angst hatte, ihn aus dem Auge verloren zu haben, hinter mich gelassen. Dass ich ihn, mit dem wir uns immer sehr gut verstanden haben, jetzt auch nicht mehr verstehe. Dass er verloren gegangen ist - oder ich.

Ich konnte ihm nicht gleich antworten, ich wusste nicht, was sagen, hatte Angst, sowieso das Falsche zu schreiben, etwas, das man nicht ungeschehen machen kann. In der Nacht bin ich wieder mit Schrecken aufgewacht, ob der Veränderungen, ob gekappter Seile, ob der Frage nach der Hand, die gekappt hat. Die Angst, dass es alleine meine Verantwortung ist. Die Death Row kam mir in den Sinn, Nick und sein langjähriges Engagement für Menschen, die zurecht oder unrecht, auf die Todesstrafe warten. Ich verstehe es jetzt wieder ein bisschen besser.

Der Text sprach davon, dass er jemanden in einer Psychiatrischen Klinik besuchen würde. Sein Text "QUELLE... woher, wohin, wozu….?" verunsicherte mich. Mir erschien das Bild eher wie das eines anonymen Grabes, den Namen “Q” im Stein gemeisselt, und nur ein Teil der Würdigung erkennbar, und die Vermutung, dass die “Quelle” hier begraben lag. Wieder erschrak ich. Bin ich daran mein eigenes Grab zu schaufeln? Schon früher hatte ich ab und zu diesen Gedanken gehabt. Und der Spruch meiner Mutter, “Wie man sich bettet, so liegt man”, kam mir wieder in den Sinn. Dieser hatte mich immer irgendwie getroffen, doch wusste ich nie, wie ich mich anders hätte betten können.

Eine weitere Geschichte kommt mir in den Sinn: "Hans im Glück". Ein Freund hatte mir mal vor Jahrzehnten gesagt, ich sei ein Hans im Glück. Das traf mich mitten ins Herz. Immer wieder sehnsüchtig habe ich geglaubt, mich auf dem Weg nach Hause zu befinden. Doch auch die Frage, die Sinead gestellt hat, hängt im Raum: Wird Mutter, anstatt mich in die Arme zu schliessen, nur beklagen, dass ich nach dieser langen Reise ohne Geld im Sack nach Hause zurückkehre? Der ganze Lohn verspielt. Ein Nichtsnutz?

Sinead's Song dazu, Willie Nelson: "Nothing I Can Do About It Now" (geschrieben von Beth Nielsen Chapman)

Montag, 12. Oktober 2020

Sansibar und Timbuktu

Was für ein Tag, gestern. Voller Schrecken und unerwarteter Erleichterungen, grosser Freuden. Dunkelheit und Licht. Und zur Abwechslung mal eine Nacht Schlaf - fast richtiger Schlaf - acht Stunden Träume, ohne grosse Unterbrechungen, ausser kurze Körper-Neuausrichtungen und erneutes Eintauchen ins Bad des “Unbewussten". Und früh wieder wach, wie ich es liebe.

Geschrieben habe ich inzwischen einen langen Brief, der viele meiner Hoffnungen und Befürchtungen enthält, dasselbe in immer wieder neuer Form. Was mehr kann man im Leben erwarten? Als immer wieder Gleiches neu zu erstreiten, und zu vergessen, wenn es denn das Gleiche ist. Gelobt sei der Widerstand, der sanfte und kräftige Druck, der uns erleben lässt, was sonst nicht zu erleben wäre.

Bei unserem morgendlichen Treffen am Frühstückstisch hat Sinead von Timbuktu gesprochen, ihrem Ort der Träume. Wo ist Timbuktu schon wieder? Ist es nicht im Osten von Afrika? Nein, das ist das andere, wie heisst es schon wieder? Der Name berührte meine Gedanken, doch war er gleich wieder weg, hatte sich versteckt. Timbuktu ist doch in Mali, im Westen, da wo die Kräfte dieser Welt sich immer wieder deutlich zeigen. Ein altes Land, eine alte Stadt, älter als Zürich, oder die Schweiz. Anders.

Da fiel mir der Name wieder ein: Sansibar, das war immer ein Ort der Träume, der mich ab und zu besuchte, wenn der Name in meinen Ohren erklang, oder ich etwas darüber las. Gewürze, Gerüche, lebendige Märkte. Als Jugendlicher hatte ich - vielleicht deshalb - mal Import-Export-Kaufmann werden wollen. Ich habs mir nachher wieder anders überlegt. Regula und Christoph waren einmal da gewesen, hatten Sansibar gesehen, wenn ich mich richtig erinnere. Wir schauten Dias an, ja, noch solche kleine 24x36mm grosse farbige Zelluloidfolien, von Plastik- oder später Kartonrahmen umrahmt, die man in einen Projektor steckte, ein einfaches Gerät mit Lampe, das das Bild auf die Wand zeichnete. Ein Abend, der mich daran erinnerte, wie wir mit Familie und Freunden jeweils an Gemeinschaftstreffen jene Bilder anschauten, die vor allem mein Vater aus den Ferien oder von Reisen zurückgebracht hatte. Es war schön, diese Dias zu schauen. Manchmal auch langweilig, denn man konnte ja noch nicht - jeder allein und "selbstbestimmt" - mit einfachen Klick sich gleich an einen anderen Traumort versetzen.

Ich war froh, dass ich nicht persönlich da in Sansibar gewesen war, denn irgendwie wollte ich mein Sansibar in meiner Vorstellung, das Sansibar meiner Träume, lebendig erhalten, und nicht durch die Realität zerstören lassen. Doch auch das muss sein, immer wieder, ich weiss es, damit eine neue Fantasie entstehen kann, ein neuer geheimnisvoller Richtungsweiser, dem wir wieder folgen können.

So sehe ich immer wieder, auch wenn mein Weg wieder an einer Mauer endet, an "privat" Gartenzäunen, copyright-geschützten Gedanken, an Rotlichtern und an fixen Ideen - wie auch ich sie in mir trage - dass diese Grenzen manchmal plötzlich verschwinden, und ich die weiten Ebenen erblicke, das Pferd, das frei durch die Landschaft galoppiert, begleitet von Wolken am Himmel. Das Pferd, das wild um sich schlagen kann, und beissen, um dann gleich wieder, umarmt von meinen Schenkeln, friedlich vor sich hin trottet. Und plötzlich stehen bleibt, um ein paar Grasbüschel zu fressen. Oder seine Richtung im Galopp verändert, weil es nach Hause will, und ich - wie so oft etwas unaufmerksam - in die von mir vorgestellte Richtung fliege... und das Pferd ist weg, ich auf dem Boden, irgendwie erstaunt meine Wange reibend, die von den Steinen auf dem Weg auf arg ruppige Weise gestreichelt worden ist.

Ja, oft werde ich überrascht von den Regeln des Spiels, beklage mich, doch erfreue ich mich bald auch wieder, dass ich nun wieder eigene Schritte gehe, ohne dass ich mich auf dem Pferd halten muss und meine Schenkel allzu gespreizt werden. Und ich weiss, dass es nichts schöneres gibt, als mit einem freien Pferd zu reiten, das einen trägt, solange es ihm gefällt, und uns abwirft, und sicherstellt, dass auch wir unsere Beine benützen können, es wissen und uns daran erfreuen. Denn auch ein Pferd will nicht nur zu Diensten sein, sondern auch SpielkameradIn bleiben.

Wer weiss, vielleicht werde ich mal ein Pferd zur Seite haben, dass ich Sansibar nennen werde, oder - eher "realistisch" - einen Hund, der gerne auf den Namen Timbuktu hört. Vielleicht einer dieser Strassenhunde, der ab und zu mich im Parque Central von Xela besucht, und seinen Kopf auf meinen Schoss legt, damit ich ihn streichle. Wer weiss. Vielleicht werde ich auch einfach in der Stube sitzen, und Netflix schauen, oder Jassen mit Freunden, einen Abend verbringen, der so oft nach Langeweile geschrien hat. Die Langeweile vergessen, oder gelernt zu schätzen, weil ja auch die Fantasie mal einen guten Schlaf verdient, sie kann ja jederzeit wieder erwachen. Vielleicht werde ich auch einmal einfach in die Ferien fahren, wie alle anderen, weil ich es aushalte, an Ort und Stelle zu bleiben, und mich auf andere Weise bewegen kann. Vielleicht nur noch auf der Bank sitzen, und ab und zu einem Kind über den Kopf streichen, das mal kurz eine Aufmunterung wünscht, oder Vertrautes im Alten erblickt. Oder vielleicht mich einfach mal ärgert, um mich daran zu erinnern, dass ich noch am Leben bin.

Mit einer alten Weggefährtin auf der Bank sitzen, ohne viel miteinander zu reden. Etwas Abstand. Ein altes Paar halt, das die einen für mürrisch, die anderen für still und zufrieden halten. Genau so, wie ich es mir immer vorgestellt hatte, wenn ich die Liebe zu einer Frau auf den inneren Prüfstand stellte. Vielleicht werde ich mit einem alten Freund ein Glas Wein trinken, den Leuten zuschauen, und uns über Gott und die Welt, und uns selber, lustig machen, wie die zwei schrulligen Alten auf den Emporen des Sesamstrasse-Theaters, oder wie die alten Schnäuzer auf den Karten, die wir uns jeweils in Schwarz und Weiss zugesandt haben.

Immer wieder suche ich noch solche Postkarten, doch immer schwieriger sind sie zu finden. Die Welt ist sich am verändern. Zum Guten oder Schlechten, ich weiss es nicht, ich lasse mich überraschen. Ich hoffe, zum Guten, denn das ist einfacher und schöner, auch wenn ich weiss, und es auch begrüsse, dass es immer wieder anders kommt, anders als ich denke. Oder auch nicht. Ich liebe das Gewohnte, das Vertraute, doch eben auch das Unerwartete, welches die Mauer von Vertrautem durchbricht, und erst dessen Schönheit zeigt, und sage einfach in immer wieder vertrauten Worten: Gott sei Dank.

PS: Immer noch bin ich wie ein Hund, der freudig springt, wenn ein Ball geworfen wird - möglichst weit.

Das Buch "Der Lauf des Wassers - Die Lebensweisheit des Taoismus" von Alan Watts hatte ich vor Jahrzehnten gelesen, an die Details erinnere ich mich nicht mehr. Doch der Titel hat mir immer gefallen, das Wasser mich immer geleitet.

"Timbuktu - a Song", Trailer. Ganzer Song "Timbuktu Fasso", (von Fatoumata Diawara & Amine Bouhafa)

Dienstag, 13. Oktober 2020

Momentaufnahme

Ich wartete. Sass auf der Betonmauer, die den Parkplatz vom Supermarkt und den River Slaney und seine Uferböschung trennt. Liess meine Beine baumeln, genoss die Sonne im Gesicht, und war wieder einmal erstaunt ob der Schönheit von "sterbenden" Blättern, deren Skelett im Licht des späten Nachmittags sich deutlich zeigt. Herbstliches Glitzern im ruhig fliessendem Wasser.

Der Abgrund

“Angst essen Seele auf”.

Wieder ist mir dieser Satz bis in die Knochen gefahren. Ich habe ihn nicht erfunden, doch er passt, als wäre er meinen eigenen Gedanken entsprungen. Als wäre es die Zusammenfassung meines Lebens - in solchen Augenblicken. Dann, wenn ich abstürze. Gestern war es wieder so weit. Ich möchte mich dann verstecken, vor mir und den anderen. Vor Sinead, die zur Zeit - wie gestern - am direktesten mitbetroffen ist. Und ich hoffe, ich habe die Kurve - wieder - erwischt. Es ist nicht einfach, das Steuerrad zu halten, und zu führen, in solcher Zeit. Angst vor jeder unbedachten Bewegung.

Ich war - mehr oder weniger - frohgemut aufgestanden. Es ist ja auch das Schönste, das Erwachen zum neuen Tag. Wir teilen dies mit allen Wesen, auch wenn die Zeiten verschoben, unser Rhythmus ganz anders sein kann. Selbst Leute die untertags arbeiten, scheinen es zu empfinden, auch die Würmer. Wachablösungen und Stabübergaben, DNA in jeglicher Form machen das aus, was wir Beständigkeit nennen.

Gestern war es so, dass mit dem Aufwachen auch meine schwebende "Situation" wieder ins Bewusstsein drang. Ich weiss, dass diese Zeit der fokussierten Besinnung nächstens wieder zu Ende geht, doch immer noch weiss ich nicht konkret, was ich machen werde. Es scheint wahrscheinlich, dass ich einfach ins Flugzeug steigen werde, das mich - mit Umsteigen - nach Guatemala bringt. Doch ich habe Angst. Immer wieder Angst, das Falsche zu machen. Es ist Teil meiner DNA. Es ist Teil meiner “Borderline” Erkrankung.

Nein, das ist keine offizielle Diagnose, eher ein Mehrzwecksbehälter. Vor allem hat es ja seit langem keine Diagnose mehr gegeben. Der letzte Versuch war vor ein paar Jahren, wurde mir etwas provokativ vor die Füsse geworfen: “Die Diagnose “bipolar” war doch eine falsche, eigentlich hast du ADHS. Vielleicht solltest du mal Ritalin ausprobieren”.

Ich musste lachen. Nein danke. Ich habs gemacht, ich habe vieles “ausprobiert". Ich glaube immer noch nicht an Medikamente, an Heilmittel. Heilmittel sind meiner Meinung nach einfache Sachen. Medikamente als Notfallbremsen, ja, akzeptiert. Danke! Doch chemische “Heil"-Mittel? Nein. Sie sind wie Dämme, Flussbegradigungen. Schnelle Wirkung, ja. Ungeahnte Nebenwirkungen - auch weit tragende - gewiss. Auch glaube ich nicht daran, dass wir alle gleich ruhig sein müssen, sondern dass wir einfach zusammen schwingen, und im grossen Chor singen. Aber natürlich “weiss” auch ich, dass wir verschiedener Meinung sein können, und wir Einfluss aufeinander nehmen, wollen oder müssen. Ein Wort, das sowohl die Schönheit als auch die Grenzen von Sprache zeigt. Etwas Höhen und Tiefen können wir doch aushalten, oder nicht? Warum nicht etwas geistiges Yoga machen, und die seelische Feinmuskulatur stärken? Uups, das gilt für mich, manchmal befürchte ich: vor allem.

Solche Tiefen sind fast unerträglich. Ja, die Hölle. Die gibt's. Nein? Warum bestehen dann immer noch wieder Leute, die zum Beispiel sogenannte Leitartikel schreiben darauf, dass der Mensch eigentlich böse ist? Der Blick ist ja verständlich, und klar, dass man immer einen Beleg dafür findet; auch wenn es nur der Ötzi ist, der jemanden zu solchem Schluss gelangen lässt - der Mensch, der fünftausend Jahre im Eis konserviert gewesen war, mit einem Pfeil in seiner Schulter! Böse? Sind wir immer noch im Mittelalter? Ist die Welt wieder flach geworden, die Erde das Zentrum, um das das Universum sich dreht? Der Mensch Mass aller Dinge? Kein Wunder, wahrscheinlich das einzige Wesen, das vermessen will, weil es messen kann. Ob man Werkzeuge, mal entdeckt, einfach liegen lassen kann, ist fraglich. Und wer beurteilt, wann, und wem, sie wirklich dienen? Wie das Beissen in den Apfel des Baums der Erkenntnis.

Unter diesem Gut- oder Böse-Blick leide ich ja selber. Es scheint nicht anders möglich, als dass der Mensch so denkt. Unser Denken ist bipolar. Wie ein Computer. Dies bleibt uns offensichtlich nicht erspart. Ausser vielleicht, wir sind gelassen - mehr als ich. Doch ist es dann auch nicht zu vermeiden, dass jemand ob dieser Gelassenheit, nah an der Grenze zur Gleichgültigkeit, sehr wütend werden kann. Nein, das ist natürlich nicht unsere Schuld, wo bliebe denn da dessen persönliche Verantwortung?! Offensichtlich müssen klare Meinungen sein.

Oh Gott, bereits etwas niedergeschlagen war ich also gestern morgen, blockiert, gestaut, und deshalb gleich freudig erstaunt, als Sinead - aus eigenem Antrieb! aus heiterem Himmel - an “unserem” Schlüsselprojekt “Garage räumen” arbeiten wollte. Und ich natürlich sofort hoffnungvoll, dass ich meine festgefahrene Energie in tätlicher Nützlichkeit zum fliegen bringen könnte: "Super, ja, ich helfe gerne mit, wenn du es möchtest." So machten wir uns dran, weiter aufzuräumen, in Abfallsäcke zu stecken, was klar Abfall ist, und zu ordnen, was unklar, oder was sie behalten will. Doch selbst Kleinigkeiten können Grund für grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten sein; so zerbrach unsere fast gewohnte Harmonie an einem leeren Farbkübel, mit wenigen Resten von getrockneten Farben drin!

[triviale Details, Anfang]
Ich war dran, den im Abfall zu entsorgen, und sie nahm ihn wieder raus. "Wir müssen den als Sondermüll entsorgen!" Ich sagte, "nein, der würde selbst in der Schweiz im Abfall landen. Aber niemand, gar niemand, würde da die Farbe rauskratzen und getrennt sorgfältig entsorgen." Im Land der Abfallverwertungs-Weltmeister! Na ja, wo viel Abfall entsteht, lernt man gezwungenermassen auch damit umzugehen, wird beruhigt durch das Wort
Recycling. Wir machen alles richtig. Nur so weiter. Doch in Irland hat es noch viel Platz, so wenigstens scheints. "Und dieser Kübel wird garantiert im Landfill landen". Ich schwöre es dir. Auf diese Art kann man ein grosses Chaos einfach schlicht unmöglich beseitigen. Da gilt es nicht nur sorgfältig abzuwägen, es braucht auch mal klare Entscheidungen, manchen klaren Schnitt! Der Berg steigt nicht ewig in den Himmel, er bricht, er stürzt. Eine reine Frage des Gleichgewichts. Unvermeidlich. Sonst müssen es einfach mal andere machen.

Schon wieder war ich also total blockiert, Aufregung gestaut. Es ist als wäre der ausgetrocknete Farbkübel gleich mit der Hoffnung auf Lösung mit entstanden. Schachmatt. Ich wusste ja, sie darf anderer Meinung sein, und ja, es ist juristisch, und abgrenzungs-logisch ihre Garage. "Es sei nur mein Problem, meine Sache!" sagte sie entschieden, sanft und messerscharf. Eine sicher korrekte Grenzziehung, die mich jedoch verzweifeln lässt. Doch das ist mein Problem, an dem ich ersticke, nur ich allein. Der ist ja krank. Klare Grenzen sind meine Intimfeinde - wahrscheinlich die aller Borderliner. GRRR! Solche Sturheiten treffen einfach aufeinander, ziehen sich an wie Fliege und Scheisse. Was rege ich mich auf? Einfach verzweifelt schmerzhaftes Unverständnis! Alles innerlich (wo ist schon wieder innen?). Gordisch pur.

Ich beisse die Zähne zusammen, mache ruhig angespannt weiter. Bergstrasse, enge Kurven, zu schnell unterwegs. Felsen, die links drohen, rechts der Abgrund. Nur vertrauen. Angst, die Gedanken unter Kontrolle bringen! Zuschauen, wie Wahnsinn seinen Lauf nimmt. Ich kann nicht bremsen, bewahre die Ruhe im Sturm, treffe vernünftige Entscheidungen, es brodelt. Habs im Griff. Bin im freiem Fall. Hilf mir steuern, übernehme das Steuer doch gleich selbst.
[triviale Details, Ende]

Für den Fall, dass du das Triviale gelesen hast, so entschuldige meine Emotionen, und dass ich versuche, dir ein wenig zu zeigen, wie sich eine schwere Depression anfühlt, gefangen im Kreis der Schlange, die sich in den eigenen Schwanz beisst! Für die einen einfach "ein Sturm im Wasserglas" , für andere ein tiefer Abgrund. Soll ich Medikamente nehmen?

Gott sei Dank war der Abend dann trotzdem gemütlich. Es ist einfach mit Sinead. Die Hündin und die Schlange. Doch müde war ich, und schickte mich früh ins Bett, und liess unruhig Gras über Wunden wachsen.

Heute morgen war der Spuk dann fast ganz vorbei, die Wogen geglättet. Wie immer friedlich. Nach kurzen Aufwachversuchen zwitscherte Sinead gleich wieder fröhlich vor sich hin. Es ist schön, ihr zuzuhören. Inspiration, wir hörten Lieder, die sich mit dem Geplauder mischten, Sinead las ein Gedicht. "Kindness". Wie sie oder wir auf dieses Gedicht kamen, weiss ich nicht mehr. Kindness auf deutsch? Ich glaube, da brauchts mindestens drei Wörter, um es annähernd zu greifen: Freundlichkeit - reicht irgendwie nicht; Liebenswürdigkeit - hat was; Güte - irgendwie auch. Auf englisch tönt es einfach sehr viel schöner, und reicher. Sie sagt, das kommt von "Kin", geschwisterliche Zuneigung.

From a sensitive woman’s heart springs the happiness of mankind,
and from the kindness of her noble spirit comes mankind’s affection.

Und weiter:

The kindness of the people is but an
Empty shell containing no gem or

Precious pearl. With two hearts do
People live; a small one of deep
Softness, the other of steel. And
Kindness is too often a shield,
and generosity too often a sword.

Beide Texte aus “The Wisdom of Gibran”

Neben dem Versuch mit dem ausgetrockneten Farbkübel, hat mich der lechzend wedelnde Hund besorgt begleitet. Ich, der immer jedem geworfenen Ball nachspringt. Klar, dass auch mein Versuch, dieses mir so passende, aber unbehagliche Kleid, am diesem Tag einem anderen zu überzustülpen, scheitern musste: in morgendlicher Umwölkung sah ich ein Bild mit Wolken ohne Text in meinem Posteingang, aus heiterem Himmel geschrieben (hier etwas ausgedeutscht): Du bist wie ein Hund, der wedelt, und gleich freudig rennt, um einen geworfenen Ball im Flug zu greifen, und wieder zurückzubringen; um gleich wieder erwartungsvoll wedeln zu beginnen, und nach dem nächsten Ball zu lechzen. (Er war am Bälle schiessen...)

Schwierig, dieser allzu spontane Send-Klick. Dessen Wirkung hat mich begleitet. Und danke für deine spätere Vergebung meiner Unachtsamkeit. Weil ich halt - im Sternzeichen - ein Skorpion sei. Doch auch ich bemühe mich stetig, den Pinselstrich der "Schönfärberei", (Idealisierung), zu erlernen und den Wert dieser Kunst zu begreifen.

Lied: "El Condor Pasa" Simon & Garfunkel, über Hammer und Nägel. (Text)

Freitag, 17. Oktober 2020

Der Plan "Rosa"

Plan - welch ein Wort, besonders zu Zeiten von Corona, oder prosaischer, Covid-19. Aber doch, immer wieder - oder immer noch - habe ich Pläne. Ich werde mich nicht unterkriegen lassen! Erst wenn es an der Zeit ist. Seit mehr als drei Monaten wohne ich nun schon in diesem "Kloster" in Irland, bei Sinead, meiner sanften und liebenswürdigen Gastgeberin. Sanft bedeutet jedoch nicht, dass sie nicht weiß, wie eine scharfe Klinge zu führen wäre. Aber sie setzt sie weise ein, vielleicht hat sie das Schwert jedoch - ganz einfach - in ihrem kreativen Chaos "verschlampt". Und vielleicht fühle ich den Schnitt manchmal auch nicht, denn ich bin nicht so schnell von Begriff. Wer mich kennt, weiss das.

Doch selbst ich sehe jetzt langsam, dass ich bald weiterziehen muss. Sonst wird es doch allzu gemütlich, denn auch wenn ich es gerne gemütlich habe, so habe ich doch Angst, dass ich ob all der Gemütlichkeit meine Aufmerksamkeit verliere, eine Wachsamkeit, die vielleicht gar keine Tugend ist, sondern schlicht Notwendigkeit. Auch wenn ich der Hund bin, der jedem Ball nachrennt, so denke ich, dass das vor allem damit zu tun hat, dass das Leben etwas zu gemütlich ist. Es bleibt einem ja nichts anderes übrig, wenn man die Zeit vertreiben muss. Wenn ich den Strassenhunden von Xela zusehe, so denke ich nicht, dass diese jedem Ball nachrennen würden, denn sie haben genügend damit zu tun, essen zu beschaffen, und aufeinander zu achten. Doch vielleicht kann ich ja trotzdem mal mit ihnen Ball spielen. Oder ihnen etwas Leckeres zuwerfen, als wäre es ein Ball. Doch das ist ja auch etwas heikel.

Das Leben ist natürlich sowieso heikel. Eben wenn ich an den geliebten Komfort denke, und an Covid-19. Dann vermute ich manchmal, dass nun dieses Covid-19 wütet, als wäre es das Wiesel im Hühnerstall, und es - anstatt ein Huhn zu essen - alle zum Schweigen bringt, weil sie kopflos gackernd und verängstigt herumrennen. Ja, das Bild kommt mir wieder in den Sinn. Wir sind ja verwöhnt, und oft eingesperrt, und haben vergessen, wie mit solchem Herausforderungen umzugehen ist. Doch zugegeben, das ist eine vielleicht an den Haaren herbeigezogene Geschichte.

Trotzdem denke ich, wenn die Hühner draussen wären, und der Hahn nicht einfach nur etwas wichtig tun könnte, dann würde dieser, oder ein gar viel mutigeres Huhn, so manchem Wiesel mindestens ein Auge auspicken, und dieses würde sich zweimal überlegen, ob es sich wieder auf ein solches Abenteuer einlässt. Sicher würde es mal ein Huhn erwischen - oder den Hahn - doch auch dann wären die anderen bereits weg, würden um ihr Leben rennen, und das Wiesel würde sich mit dem einen Huhn begnügen. Mehr als genug. Ihre Überlebenschancen wären vielleicht nicht höher, doch das Leben sicher etwas abwechslungsreicher, oder nicht? Und das Netflix-Abonnement könnten sie sich auch sparen. Sie spielen ja gleich selber die Hauptrolle in der spannenden Geschichte.

Auch wenn ein Fuchs mal ein Huhn erwischt, so mögen wir uns doch dran erinnern, dass Hühner nicht unser Besitz, sondern im besten Fall ein Geschenk sind, und dass auch wir mal als Geschenk auf einem schön gedeckten Tisch landen werden, und wenn es “nur" auf dem der Würmer, Asseln oder Schnecken ist. Doch auch ihnen soll es schmecken. Ich hoffe, dass sie nicht an Schwermetallen und anderem Sondermüll verenden, der ihnen im Essen mitgeliefert wird. Oder dass sie damit umgehen lernen, um daraus wieder etwas Wertvolles machen können, natürlich für Andere, ohne es zu wissen.

Zum Trost hofft der Esel, dass die Rübe wenigstens biologisch ist, oder mindestens voller Überraschungen!

Doch das alles ist natürlich Unsinn, was ich hier schreibe. Ich weiss, oder vermute, die Dinge sind komplexer, als das was hier - frei aus dem “Gehirn”, und wenig faktenbasiert - aus meinen Tasten auf den Bildschirm drängt. Ich habe keinen Überblick, wir alle sind ja Figuren im Roman, auch in der Geschichte der anderen, und deswegen auch gebunden, nicht ganz so frei wie wir das uns manchmal denken. Doch ja, vielleicht doch ein bisschen. Ich versuche grad trotz Covid-19 nach Guatemala zu gelangen. Maripaz hat mir geschrieben, dass die Türen Guatemalas für mich immer offen stehen würden. Und ich nehme sie beim Wort. Ob auch die Tore auf dem Weg offen sein werden, das weiss ich noch nicht. Doch vielleicht gilt da für einmal wieder, wo ein Wille ist, ist ein Weg (oder umgekehrt?). Mal schauen, ob das stimmt, und ob’s mit dem Willen klappt. Auch der bleibt ja auch mal weg, ist nicht so zuverlässig, obwohl das kaum Willen’s Absicht ist. Auch er braucht mal eine Ruhepause.

Es ist einfach immer noch so, dass ich zuverlässig sein möchte. Denn fast mein Leben lang habe ich mir überlegt, welche Tugend ich pflegen sollte, damit ich wenigstens eine habe. Ich habs mit vielen versucht, doch sie lagen ausserhalb meiner Reichweite. Doch von der Zuverlässigkeit dachte ich, dass ich die, wenigstens annähernd, erreichen könnte, auch wenn auch diese Tugend, wie wohl jede, ihre Grenzen hat. Doch immer wieder, wenn ich daran denke, für Weihnachten in die Schweiz zurückzukehren, dann wird die Freude gleich von unbehaglichen Fragen bedrängt. Und ich denke daran, dass ich ja bereits im Rückstand bin, zu meinem Versprechen vor bald einem Jahr, im September 2020 in Guatemala zurück zu sein. Es ist schwierig, ganz zuverlässig zu sein. Doch ich arbeite weiter an dieser mir so vertrauten Tugend. Sie ist mir Leitplanke, und Sicherheitslinie, und eröffnet ungeahnte Möglichkeiten, entgegen ihrem Ruf der Phantasielosigkeit.

Da ich mich langsam auf die Weiterreise vorbereite, brauche ich nun wieder mehr Zeit. Und vielleicht möchte ja Sinead noch, dass ich dieses oder jenes Projekt mache, oder halbherzig Angefangenes fertig mache. So habe ich beschlossen, hier mit diesem monatlichen Bericht früher aufzuhören, und nur noch spontan, einzelne Texte zu schreiben. Vielleicht werde ich auch nicht mehr, wie bisher, auf neue Texte aufmerksam machen, sondern darauf vertrauen, dass, wenn jemand etwas von mir lesen möchte, er oder sie diese Texte auch findet. "Mosaics" (Engl. Mosaike) + "." (Punkt) + "ch" (wie das Land meiner Geburt, da wo ich herkomme) = Mosaics.ch. Das sollte doch einfach zu erinnern sein. Und falls nicht, so mache es einfach wie ich: Ich habe es aufgegeben, alles erinnern zu müssen. Ich weiss, wenn ich die Erinnerung wirklich brauche, dann steht sie gleich vor der Tür. Wie Gehirn und wie Erinnerung genau funktionieren, ist mir ein wahres, süsses Geheimnis. So kann man durchaus sagen, dass ich - wenn ich ein Künstler wäre - jetzt sozusagen in der Phase bin, die vielleicht mal als meine Phase "Rosa", oder "Color Purple", genannt werden wird. Wer weiss.

Und sollte mich jemand mal vermissen, weil ich jetzt grad nicht da bin. Dann denkt daran, dass ich zuverlässig bin, mein Bestes gebe. Und wenn ich es mal nicht bin, so vertraut darauf, dass das Leben grundsätzlich beständig ist, doch zur Erneuerung immer wieder Überraschungen im Köcher hat. Und für einmal könnt ihr einen Rat von mir hören, ganz frei natürlich, ihn zu befolgen: Folgt eurem Willen, wenn er euch den Weg weist. Es ist schön, mit dem Willen zusammenzureisen. Sollte er mal fehlen, und ihr ihn vermissen, nur Schmerz eure Seele füllen, dann seid geduldig; denn im Schmerz versteckt sich so manche Tür, die den Blick auf einen neuen Weg eröffnet, der wieder gemeinsam mit dem geliebten Willen begangen werden kann. Oder bedenkt, dass es gut passieren kann, dass auf einmal ein alter Freund oder ein geliebter Bruder vor der Türe steht.

PS: Grad kam Sinead in die Küche geschlendert, in ihrem kuscheligen mausgrauen Morgenmantel, noch etwas verschrumpfelt, das Gesicht etwas verschlossen, wie ein Kind, das mit seinem Nuscheli in der Hand, den Daumen lutscht. Ich sagte etwas, begrüsste sie mit einem Spruch, und sogleich begann sie angeregt zu plaudern, ihr Gesicht hellte sich auf, so schnell wie ein Sonnenaufgang am Äquator! Und schon erzählte sie mir eine Geschichte, druckreif, vom "Fax", und dass sie damals die technische Entwicklung hätten stoppen sollen. Es ist unmöglich, die Kraft der von ihr erzählten Geschichte nachzuzeichnen. Doch ja, beim Fax hatte man sich noch getroffen, man konnte Handnotiertes noch schnell unterschreiben, um eine Bestellung abzusenden, und vor allem die Destinationen der Faxe hätten auch Timbuktu oder Sansibar sein können, und noch keine IP-Nummern. Es gibt wenige Wörter, die noch so klingen, für mich z.B. "Guatelinda", oder "mi tierra", und vielleicht nicht überraschend auch "Home".

Auch die Musik lieferte sie gleich dazu, sie passe! Stimmt: "I'm still standing" (Elton John), und sie trieb es noch auf die Spitze! Besser? Etwas langsam, schmerzhafter: "Stairways to Heaven" (Led Zeppelin)

Freitag, 19. Oktober 2020

Zum Schluss

Vor ein paar Tagen waren Sinead und ich nach Rathwood gefahren, um da im nahen Wald spazieren zu gehen. Ein Naherholungsgebiet mit Familien- und Tierpark, und Ramschwaren und Coffee shop, mit angrenzenden Wegen in einem Wald, der wieder Erwarten erstaunlich wild ist, obwohl die Wege meist gepflegt sind, und ein paar Bänklein auch zum Sitzen und Rauchen einer Zigarette einladen. Wir waren beide etwas nachdenklich, und liefen vorerst still vor uns hin. Doch das Laufen im Wald zeigte Wirkung. All die verschiedenen Bäume, von Feuchtigkeit und Wetter geschminkt, die Pilze, und ab und zu Lichtungen in dichten, düsteren, eng bewachsenen Tannenwäldern links oder rechts, mit Böden voller moosbedeckten Steine und Hügel, auf die ab und zu ein mysteriöses Licht fiel, und man gleich erwartete, dass Elfen und Wichtel erscheinen würden.

Doch gleichzeitig war ich weiter in Gedanken versunken, dachte an dieses und jenes, so auch ans Nachtessen, "machen wir Basmatireis zu dem Stir-Fry?" fragte ich aus heiterem Himmel, und sie lachte ob meiner fernen Gedanken, und ja, auch ich. Ich hatte ja trotzdem nicht manches verpasst, sah die glitzernden Perlen, mit denen der kürzliche Regen die Grashalme geschmückt hatte, die den Weg begleiteten. Und sah den Rehbock und das Reh, die in einem grasbewachsenen Wegstück ganz in der Nähe erstaunlich gelassen grasten. Was für ein Frieden.

Gleichwohl war ich etwas besorgt, weil ich immer wieder so in Gedanken versunken bin. Doch wusste ich gleich, dass ich mit beiden Beinen fest auf dem Boden stand, oder zumindest immer mit einem. Und gerade jetzt dachte ich - verzeiht mir - wie dumm ist es, einen nachdenklichen Menschen wie mich zu fragen: Wieso machst du dir immer so viele Gedanken? Es ist, als ob man einen Schäferhund fragen würde, warum er die ganze Zeit rennt, um ein Schaf zurückzubringen, das sich dem Abgrund genähert hat oder daran, sich etwas zu weit zu entfernen. Er würde einfach neugierig "zuhören", mit dem Schwanz wedeln, und gleich wäre er wieder weg um seinem Ruf zu folgen. Ein Spaten ist eben ein Spaten, wie Sinead gestern Abend so weise sagte.

Alles in Ordnung.

PS: Noch ein letztes Wort :-)
Wir haben eben (wieder einmal) gefrühstückt, und Sinead zwitscherte wie oft gleich an meiner Seite. Wir sprachen über die Iren, die so viel reden, vielleicht, um sich warm zu halten, oder einfach um mit vielen schönen Worten über alles zu reden, und nichts zu sagen. Wir sprachen auch von Prince, der sein ganzes Leben lang schüchtern gewesen war, und gleichzeitig ein so guter Performer, und kein Instrument, das er nicht spielen konnte. Geben wir ihm das letzte Wort:

Prince: "Purple Rain"

Freitag, 20. Oktober 2020

Letzte News - Reisefieber

Freitag, 21. Oktober 2020

Nach einer guten Nacht, bin ich heute morgen frisch aufgewacht, bereit, den gordischen Knoten zu durchtrennen. Sinead war gleich dabei und fuhr mich nach Carlow ins Reisebüro. Und ich machte Nägel mit Köpfen:

  • Flug gebucht für Samstag, 21. November 2020, 18:20 ab Dublin, mit Iberia
    1x Umsteigen in Madrid, Guate: 22. November 7.20
  • Covid-19-Test fixiert in Dublin: Freitag, 20. November 2020, 16.00 (Resultat per Mail 24 Std.)
    Erfordernis für Immigration in Guate, darf höchstens 72 Stunden alt sein.
  • Übernachtung in Dublin noch unklar
  • In Guate holt mich Gilda ab. Ich bleibe bei ihr für ein paar Tage, sie hilft mir mit Bürokratischem. Sie ist sehr zuverlässig, und eine geliebte Stütze seit Jahren. Macht Freude, gibt Zuversicht.

Ich hoffe, dass alles klappt. Und dass sich die Wellen langsam etwas glätten. Auch hier in Irland ist ab Morgen, Donnerstag, 22. Oktober früh, wieder Lockdown angesagt. Stufe 5. Für 6 Wochen.

Ich hoffe, dass auch für euch alle bald Türen wieder etwas weiter aufgehen, und die Wellen sanfter werden!
Nos vemos.

😅🏄🏻

Aktuelle Updates von Reiseabsichten

Tullow, 23. Oktober 2020, 10:19
Gestern erhielt ich die letzte "Hiobsbotschaft". Mein gebuchter Flug wurde bereits wieder annuliert. Mein nächster Termin ist nun am

2. Dezember (Ende der Lockdownphase von 6 Wochen hier in Irland)

Ich wünsche uns allen viel Glück.

 

 

 

 

1 Kommentar

Noldi, 11. Oktober 2020

Ich habe grosse Freude an Deinen Berichten, bzw sie berühren mich sehr, weil Du mich Anteil nehmen lässt an Deinem Prozess. Ich möchte aber etwas zu Deiner Frage bemerken, warum so wenige Freunde auf Deine Berichte reagieren. Zunächst gibt es einfach nichts dazu zu sagen, es gibt nichts zu bewerten, für gut oder problematisch zu finden. Es ist wie es ist oder wie Du es laufend formst. Du lässt uns daran teilhaben aber wir sind nicht dabei. Du bist weggegangen. Für mich aber bist Du immer noch da, auch wenn Du weg bist. Weil ich Dein Bruder bin und als Drilling vielleicht noch tiefer verbunden mit Dir. Wenn ich das nicht wäre, würde ich vielleicht auch nicht mehr reagieren, da ich vermutlich nicht verstehen würde, dass Du nicht von mir weg sondern zu Dir oder was auch immer hingehst. Schreib einfach weiter, für wen auch immer.

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