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Der dritte Monat 

1. Oktober 2020, Jürg Messmer

I'm so vain

Carly Simon singt "You’re so vain" - für immer und ewig. Ich hatte die Worte nicht mal gehört, als ihr Lied auf der Fahrt mit Frieda nach Beara Peninsula an der Westküste lief. Aber plötzlich habe ich mich wieder daran erinnert, auch an die wichtigsten Textstellen. Es stimmt, auch ich bin einer, der sich oft persönlich von Liedern angesprochen fühlt, als wäre es eine Botschaft für mich, nur für mich. Ja, ich bin eitel. Ich bin versucht zu sagen, wir alle sind eitel. Doch das ist nicht der Punkt.

Ich war daran, den ersten Text für den kommenden Reisebericht zu schreiben, wollte frühzeitig damit beginnen. Bereits ist wieder Mitte Monat, weil ich erstmals den "zweiten Monat" fertigschreiben musste, und habe Angst, wieder in denselben Stress zu kommen, am Ende des Monats einen Bericht schreiben zu müssen, der nicht gleich alle zu Tode langweilt. Ein Stress schlimmer als Covid-19!

Diesmal wollte ich mich auf das Thema Kindergarten fokussieren. Immer wieder hätte ich gerne, die Welt wäre ein grosser Kindergarten, mit allen möglichen und unsinnig ernsthaften Spielen. Doch Sinead meinte: Was für ein Saustall, so ohne Erwachsene und ordnende Vorgaben. Erinnerst du dich an den Film "Lord of the Flies"? Nein, ich erinnere mich nicht.

Doch irgendwie scheint mir, dass dieser grosse Kindergarten bereits besteht, umgeben von Erwachsenen, die ihre Kinder am Ende des Tages abholen, um sie sicher nach Hause zu bringen. Ein Ärgernis, vielleicht auch weil andere Kinder über diesen komfortablen Service verfügen, und ich - wenigstens scheinbar - nicht. Auch ich will ihn haben. Aber niemand wartet da draussen auf mich, so gehe ich langsam weiter, ohne genau zu wissen, wohin. Manchmal habe ich das Gefühl, dass alle Teil eines Flusses sind, und ich der Einzige, der sich ängstlich an dieser verrottenden Wurzel festhält, grad noch stark genug für einen Halt. Doch gleich denke ich auch, was wäre der Fluss ohne sein Bett, das ihm Form und Richtung gibt, ihn erst zu dem Fluss macht, der er ist.

Buch: Darin konnte ich abtauchen:“Hot Milk" (Deborah Levy)

Lied: Carly Simon: "You’re so vain"

Mittwoch, 16. September 2020, ein sonnigen Tag - fast zu sonnig für einen gewöhnlich depressiven Halb-Iren!

Der gordische Knoten

Immer wieder ist mir gestern der gordische Knoten in den Sinn gekommen. Mein Seele kehrte immer an den Ort der Unmöglichkeit zurück, mich vom Morgen zu befreien. Eigentlich habe ich alles, was ich im Moment brauche, könnte es einfach geniessen, doch ich brauche es auch, die ganze Bewegung des Gestern und Morgen zu sehen, und darin mitzuschwingen. Einfach da zu sein, das gelingt mir nicht. Am besten noch, wenn ich “körperlich” arbeite. Arbeit, die Sinn macht. Doch an diesem Wunsch nach Sinn verzweifle ich auch oft. Wie durchschneidet man diesen gordischen Knoten, der sich auch knüpft, wenn andere auf Wahrheit und Realität bestehen, und ich gleich das Schwert der meinen zücken will? Oder ich mich gegen den Schmerz wehre und mich nicht berühren lasse.

“Egozentrik” begleitet mich wie so oft, auch in diesen Tagen. So sprach Sinead mal von etwas und meinte gleich schnippisch, ich spreche jetzt nicht von dir! Ich musste - etwas gequält - lachen. Als ich Hot Milk las, dachte ich, ich möchte auch so schreiben können. Doch ich kann nicht in virtuellen Figuren meine nackte Wahrheit zeigen, zu viel Angst habe ich, ich könnte jemandem etwas zuweisen, der oder die das nicht will. Dabei müsste ich ja nur die Figuren lieben, die dabei entstehen, ungeachtet davon, ob sie wahr sind oder nicht. Vielleicht beharre ich deshalb auf meiner Egozentrik, weil ich nichts anderes für möglich halte. Jede Form scheint mir egozentrisch, notgedrungen ein Standpunkt, auch wenn beweglich, und nur das Spiel selber hat vermutlich kein Zentrum.

Lied: Leonard Cohen in ungewohnt dünner, unsicherer Stimme: "Like a Bird on a Wire"

Buch: an diesem bin ich fast erstickt, als wäre es das Jüngste Gericht: "BINA", Anakana Schofield

18. Septemberr 2020, Tullow, another sunny day in Ireland

Natur und Ähnliches


Versuch, im wilden "Garten" menschliche Spuren zu legen

Gestern sass ich frühmorgens draussen im "Garten" und betrachtete diesen Ort, der mir inzwischen so vertraut geworden ist. Diese Mischung aus heruntergekommener Industriebrache und Abfallsammelstelle, doch auch voller Pflanzen, die durch Ritzen in alten und brüchigen Betonplatten ans Licht drängen und sich auch sonst überall ausbreiten. Das Haus war mal von einem lokalen Bauunternehmer gebaut worden, der in seinem "Garten" seine Baumaschinen abstellte. Es erinnert mich immer wieder an den Obstgarten, wo ich 23 Jahre lang gelebt habe. Alle möglichen Kleinunternehmer waren da in verschiedenen Räumen tätig, ein Kommen und Gehen, und früher hatten sich da auch noch Schweine auf kleinem Raum zusammengedrängt, als der Grossvater noch lebte. Ab und zu stank es grässlich. Das gefiel mir nicht, doch dachte ich mir, Er ist ein Bauer. Ich nur ein Konsument. Beim nahem Zusammenleben verschwinden solch klare Grenzen, und ich weiss, ich habe eine sehr reiche Zeit da hinter mich gelassen. Weil es Zeit war, weiterzugehen.


Wäschegalgen


Wie Birds on a wire

Baustellen haben mir immer gefallen, da konnte man sich früher am Abend und Wochenende noch frei bewegen und Geheimnisvolles erkunden. Oft war es etwas gefährlich, und interessant. Auch arbeiten konnte man da, am war man müde, hatte etwas gemacht. Ein Bier trinken, verdienterweise. Doch immer wenn diese Baustellen fertig waren, wurde einem der Raum entzogen. Etwas mehr Hecken und Vorbote, mehr Privates. Dieses Gefühl ist mir bis heute geblieben. Ich fürchte mich vor dem Fertigen, dem Definierten. So ist es jetzt, so haben wir es gewollt. Und damit leben wir jetzt. Es ist beengend.

Gestern haben wir die Altamont Gardens besucht, eine alte Villa mit schönen weitläufigen Gärten, mit Weihern, exotischen Pflanzen und Bäumen, und Wäldern, in denen man laufen kann. Die Gärten sind sehr gepflegt, und ich bewunderte die Rundungen der präzis getrimmten Büsche, und die Hand des Gärtners, der sorgfältig eine Rose schnitt. Da arbeiten, ja, warum nicht? Doch einfach besuchen? Schnell wird es mir unwohl, und ich freue mich, wenn ich in ungeordneteres Gelände komme, wo ich wieder atmen kann.


River Slaney am Rande des Waldes von Altamont Gardens

Und dieses wird natürlich immer weniger. Immer mehr Menschen drängen sich ins Leben und suchen ihren Platz. Und je weniger Platz, desto mehr wächst das Private, ein sicherer Platz zum träumen, von einer besseren Welt. Ein Ort, an dem man selber bestimmen kann. Doch selber bestimmen heisst immer auch für andere bestimmen. Wo ich selber bestimme, ist der Platz für andere besetzt. Wir bestehen auf alten Rechten, die in Zeiten entstanden, als noch genug Platz da war, um neue Länder zu erschliessen. Doch welches Land wollen wir heute noch erschliessen? Das innere Land?


Hochbeet, bereit für Gemüse im Frühjahr

Hier bei Sinead finde ich zur Zeit noch einige Arbeit, doch ist es immer wieder schwierig. Unsere Ansichten sind gezwungenermassen anders. Sinead lebt da, nimmt es wie es kommt, hat keine grossen Pläne. Diese verschieben sich immer wieder, von täglichen Dringlichkeiten verdrängt. Doch leidet sie auch etwas darunter, dass sich Unerledigtes auftürmt. Und ich sehe die Möglichkeit, ihr in "solchen Sachen" zu "helfen". Doch ich bin ein Mann für's Grobe. Wenn ich etwas mache, denke ich strategisch. Es braucht Platz, um Platz zu schaffen. Und um Ordnung zu schaffen, braucht es kurzzeitig mehr Unordnung, eine Auslegeordnung. Die Welt wird durcheinander gebracht. Und Altes geht dabei auch verloren.

Eine grosse Frage ist, wenn ich schneide oder jäte, wohin mit Unkraut und Geschnittenem? Kompostieren, ein Platz zum lagern oder verbrennen? Verbrennen ist verboten, doch jeder machts. Manchmal lässt sie mich dann nicht schalten und walten wie ich will, und ich fühle mich eingeengt, gelähmt. Wir rangeln um Bestimmung. Bestimmtes wird durcheinandergebracht. Mein Blick wird schmerzhaft neu gerichtet.


Befahrbarer Teil des Wanderwegs "Wicklow Way" (Hauptstrassen können fast genauso aussehen!)

Tonnenweise Efeu gibt es hier in Irland. Es ist das Nationalgewächs. So wie Kanada das Ahornblatt, müsste Irland eigentlich das Efeu als Emblem in der Nationalflagge tragen :-) Fast jeder Baum in Irland ist von Efeu befallen. Es ist ja auch schön, wenn sie die Mauern hochkletten und begrünen, oder als Immergrün den Boden vor Unkraut bewahren, doch wenn sie auch alles andere druchdringen und ersticken, dann muss man ihnen manchmal Grenzen setzen. Sinead ist einverstanden. Also beginne ich, an Efeu zu ziehen und zu schauen, woher die Stränge kommen. Beginnt man mal, dann scheint es kein Ende mehr zu nehmen. Doch wenn ich einem Strang in die Tiefe folge, dann sehe ich, woher sie alle kommen. Das Nest. Die Wurzeln des Übels!

Fast ist es so, als wäre ich ein Chirurg, der am offenen Herz arbeitet, um ein Geschwür zu entfernen. Ich sehe auch die Dornengewächse, und die Nesseln, die sich wie das Efeu heimlich aus dunklem Schatten von Ungepflegtem ausbreiten. All das muss weg. Ich rieche Blut. Das Wiesel kommt mir in den Sinn, das - einmal im Hühnergehege - wütet, bis Ruhe einkehrt. Ein Blutbad. Bin ich ein Mörder? Ich beruhige mich, und mache bestimmt weiter. Meine Hand scheint zu wissen, was sie macht. Und ich weiss, dass vielleicht mal eine Hand auch mich auf solche Weise entfernen wird. Ich seh den Sinn. Doch bitte noch nicht jetzt!


Dream catcher - Sineads Traum-Fänger

Albträume sind meine konstanten Begleiter. Vieles ist durcheinander, auch erstarrt, weil Bewegung fehlt. Diese Bewegung findet also in den Träumen statt. Sinead hat einen schönen Dream Catcher gemacht, der Albträume abhalten soll. Sie schien genau zu wissen, was sie machte. Das beruhigte mich. Sie fand alles, was sie brauchte - im "Gerümpel", das sich überall staut. Dinge wollen offenbar bei ihr bleiben, weil sie immer wieder Verwendung für diese findet. Kein Wunder, dass sie oft nicht gleicher Meinung ist mit mir, der wahrscheinlich aus Phantasie- und Mangel an Verantwortungsbewusstsein - das Gepäck klein hält. Die Phantasie habe ich scheinbar ausgelagert. Ich bin dankbar wenn ich sie leihen kann!

Spiele (k)eine Rolle

Noch ist es dunkel. Auch diese Nacht bin ich wieder von Albträumen verfolgt worden und vor Angst erschreckt, doch immer wieder bin ich abgetaucht, wirbelte mit im Getaumel. Um 5.30 bin ich ganz aufgewacht. Es war kalt, meine Blase drückte, die Kälte zieht alles zusammen. Bin aufgestanden und dann nochmals ins Bett geschlüpft. Habe den Dream Catcher angeschaut, der am dunklen Fenster hängt und die Kristalle, die im Licht funkeln sollten, und musste lachen. Nein, der Dream Catcher hat die (Alb)träume nicht abgehalten, sondern eingeladen, gebündelt. Das ist ok. Selbst Sinead hatte zugegeben, dass sie nicht sicher sei, was dieser Dream Catcher denn wirlich mache. Eine Hexe.

Inzwischen haben wir das erste Mal laut über eine Miete nachgedacht. Ich werde Miete bezahlen. Es ist komisch, denn ich bin ja auf dem Sprung, doch in der Luft angehalten. Lange habe ich gedacht, dass das Corona-Virus mir nichts anhaben könne, es sei ja bereits Teil von mir. Doch je mehr man sich wehrt, desto mehr bleibt es haften. Ich kann ihm irgendwie nicht entkommen, vor allem dem Covid-19, dessen ungeliebtes Gesicht. Immer wieder habe ich darüber gegrübelt, was es mit dem Menschen als Krone der Schöpfung auf sich haben könnte. Hoffnungslos. An Zeremonien und meisterhaften Kapriolen fehlt es jedoch sicher nicht.


Mausgraue Katzenmutter mit ihrem letztjährigen Katerjungen

Seit ein paar Tagen füttere auch ich die Katzen. Vorher hatte ich gedacht, ich will diese Tätigkeit Sinead nicht wegnehmen. Wenn ich wieder gehe, soll ich keine Lücke hinterlassen. Doch in der Zwischenzeit hat es sich aufgedrängt, dass auch ich das mache. Die Katzen hatten bisher immer etwas Angst vor mir. Vor allem die kleine Katzenmutter, die Mutter des verendeten Kätzchens. Da sie offenbar eine Nervenschwäche hat - Sinead nimmt an, sie wurde mal vergiftet - stolpert sie immer über sich selbst wenn sie in Panik wegrennt. Sie ist behindert, ihre Hinterbeine brechen beim Laufen und Rennen immer wieder ein. Es sieht schrecklick aus, doch beim näheren Hinschauen überrascht die Würde, die Leichtigkeit wie ihre Körperteile auseinanderfallen und sich wieder sammeln. Wunderlich, bewundernswert. Wenn ich nun also die Näpfe hole, sie fülle und wieder bringe, schleicht sie um meine Beine herum, sie hat keine Angst. Manchmal sitzt sie entspannt auch ganz in meiner Nähe. Doch gleich rennt sie bei der kleinsten unerwarteten Bewegung plötzlich wieder weg, stolpert wieder in scheinbar wilder Panik über ihre eigenen Füsse, und macht Rollen, als wäre sie ein Zirkusartist, kommt zum Stand. Schaut mich an. Es ist als würde sie Kapriolen machen. Form-vollendet. Ich muss einfach lachen.

Immer wieder denke ich an Guatemala. An die Menschen da, die ich kennen und schätzen gelernt habe, so auch an Doña Isabel, die "Putzfrau" der Sprachschule Celas Maya. Immer wieder kam mir der Gedanke, dass sie eher die Herzen der Menschen putzt als dass sie wirklich die Böden und Wege wischt. Während dem wir Schüler und LehrerInnen gelehrt gelernt haben, und uns auf irgend einen nächsten bedeutenden Schritt, auf eine Reise, auf eine Arbeit, auf ein tieferes Verständnis von Sprache vorbereitet haben, war sie immer irgendwo am wischen, und hat immer wieder - irgendwie schelmisch - gelächelt. Ich weiss nicht, ob sie zur Zeit in der Schule arbeitet und was sie macht. Die Schule ist wahrscheinlich weitgehend leer. Es gibt keine oder wenige die Präsenzunterricht machen können oder wollen. Viele haben Angst. Auch die Schüler fehlen. Es ist für mich schwer, Guatemala ohne alle diese verschiedenen engagierten LehrerInnen, Schüler aus verschiedenen Ländern, Lesly, die allgegenwärtige Receptionistin und "Chefsektretärin", oder Domingo, den bestimmt präzisen Buchhalter, oder die immer warmherzige Araceli vorzustellen. Was machen sie alle jetzt? Oder María, die immer etwas geübt klagende Indigenafrau, die ab und zu im Durchgang vor dem vergitterten Eingangstor der Schule ihre traditionellen Webarbeiten darbietet. Ich habe ihr mal versprochen, dass ich noch etwas bei ihr kaufe, doch habe das dann nicht gemacht. Werde ich mein Versprechen noch halten - was werde ich kaufen, und für wen? Und werde ich Doña Isabel wieder sehen? Ich hoffe es, bin mir manchmal ziemlich sicher. Die Frage ist nur wie, und wann.

Über Mangel an Präsenzunterricht kann ich mich im Moment hier bei Sinead sicher nicht beklagen. Also übe ich mal hier noch eifrig und begeistert weiter - ganz "Protestant".

Inzwischen ist es 7.37. Bald ist Zeit, um Kaffee für Sinead zu machen, den Geschirrspüler leeren, und die Küche etwas aufräumen. Immer auch wische ich am Morgen den Boden und rutsche auf den Kacheln herum, entferne Flecken und übersehenen Staub mit einem feuchten Lappen. Es ist meine Morgenmeditation, und die will ich nicht missen. Der Boden muss fast glänzen, und bereit dafür sein, um wieder schmutzig zu werden. Manchmal wische ich den Boden auch, wenn Sinead am Kochen ist. Und erinnere mich dann an Maria, meine Schwägerin, die meinem etwa gleich chaotischen Bruder beim leidenschaftlichen Kochen mit dem Besen zwischen die Beine fährt. Ach Gott, das Leben ist ja wirklich auch lustig, irgendwie interessant.

Spiele ich keine Rolle? Das kann nicht sein! Mathematisch - gemäss Mengenlehre - ist das "eine" ja in "keine" enthalten. Mathematiker mögen eine allfällige Unschärfe dieses Gedankens verzeihen.

PS: "The Elegance of the Hedgehog" (Igel), von Muriel Barbery. Der Titel gefiel mir sofort, und das Buch ist eine manchmal anstrengende, aber passende Begleitung: Renée, eine Concierge, die ihre Rolle spielen muss. Sie beobachtet genau, liest viel und macht sich philosophische Gedanken, die jedoch nicht zum Stereotyp einer Concierge passen. Im "Dialog" mit den Beobachtungen des neunmalklugen Mädchens Paloma, das in derem luxuriösen Appartmenthaus in Paris wohnt und seinen Selbstmord (Bühnenabtritt) plant, entsteht ein lebendiges Bild dieser Schicksalsgemeinschaft. Das Versteckspiel nimmt seinen Lauf. Bissig und liebevoll.

Im Kloster

Wieder eine Nacht voller Ängste, wiederkehrende, die ich seit langem kenne: Versagen, Verloren fühlen, Verlust und immer wieder Schuld und Scham. Christliche Geschichten von Hölle oder Limbo, Klopfen an Türen versuchen Ruhe in buddhistischer Sichtweise zu finden. Eigenartigerweise rettet mich ab und zu Yoga in der Nacht. Nach langem nicht Schlafen können und verzweifeln, sitze ich auf im Schneidersitz, denke manchmal gleich, ja, das könnte ich jetzt ewig machen. Harre noch etwas aus, spüre die Dehnung in meinem Unterleib. Und gleich entfädeln sich die Beine wieder und strecken - die Ewigkeit kann warten - und ich ordne meine Kissen, lass das Licht vielleicht etwas brennen, und oft döse ich dann ein. Oder ich verzweifle an Schuld und ewiger Hölle, und spüre dann, wie ich mich aus diesem Staub erhebe und finde Ruhe für eine Weile im Stab, der mich hält. Auch dann schlummere ich oft wieder ein.

Ich bin mich gewohnt, mit solchen Dingen zu leben, doch es ist anstrengend, auch für Sinead. Denn manchmal bin ich nach solchen Nächten ausgelaugt. Mein Nervenkostüm hat Löcher und ich trage die Verzweiflung und Ausweglosigkeit durch den Tag mit. Gestern sagte sie mir etwas gequält lächelnd, dass sie in Zukunft mich in solchen Situationen vielleicht in mein Zimmer schicken würde - als wäre ich ein Kind.

Ich bin ein Gast auf Zeit. Bewegung ist mein Leben. Im Moment findet die Bewegung vor allem in der Nacht statt. Ich bin im Lockdown. Vor ein paar Monaten - mitten im "ersten" Covid-19 Lockdown - tauschte ich mich für kurze und intensive Zeit schriftlich mit Alan aus. Er ist so was wie ein passionierter ewiger Student der Metaphysik, insbesondere der Eschatology, und meines Empfindens nach ein Vertreter der vertikalen Erkenntnis, des reinen Denkens. Doch mir geht dieses Talent ab, ja in dieser Auseinandersetzung stiess ich wieder auf diese schmerzhafte Erkenntnis. Ich suche diese Auseinandersetzung immer wieder, es ist auch die mit meinem Vater. Wahrscheinlich müsste ich Balast abwerfen. Doch dies mache ich schon lange, auf der materiellen Ebene, doch vielleicht ist nun halt die spirituelle Ebene an der Reihe, die, die ich nie zu fassen kriege. Vielleicht bin ich deshalb nun in diesem Kloster gelandet, dass ich meinen inneren Stall ausmisten kann. Es scheint, dass sich nun auch die Möglichkeit ergibt, dies in nützlicher Arbeit auszuleben. Es ist eigenartig. Ein Grund, warum ich wusste, dass ich wieder zu Sinead zurückkehren würde, war diese geheimnisvolle Garage, voller Geheimnisse, voller alten Sachen, Möbeln, Türen, unbenutzten Gegenständen und Abfällen. Bisher war Sinead immer etwas widerspenstig, vielleicht weil sie nicht verstand, warum mir dies so wichtig war (verstehe ich gut!) und auch weil sie diesem Druck sich widersetzte. Doch ich will nichts machen, das ihr nichts nützt, denn dann nützt es auch mir nichts. Ich bin egoistisch. Sie versteht nicht, warum ich so passioniert anderen "helfen" will, aufzuräumen und zu entschlacken. Doch es scheint meine einzige Möglichkeit, dabei mein Inneres zu entschlacken.


Die Zugvögel versammeln sich täglich, und die Garagentür scheint offen

Vor ein paar Tagen hat Sinead gesagt, dass das Wasser ja seit "Anbeginn" auf dieser Erde sei, es sei immer dasselbe. Ja, vielleicht ist das Wasser unser Gedächtnis. Auch die Felsen, die Bäume, die Pflanzen, alles, was den Stab immer wieder weiterreicht.

Heute morgen bin ich frisch und voller Elan aufgewacht. Wieder viele Träume und den einen, unter dem ich leide. Es geht immer um Grenzen, zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen du und ich, und dieser feinen Membran, die uns trennt, und gleichzeitig verbindet. Covid-19 setzt mir nun Grenzen, und ich akzeptiere sie, natürlich bin ich hartnäckig, suche Löcher im Zaun, und versuche den Sinn dieser Grenzen zu erkennen. Ich denke über Covid-19 und unseren Umgang damit nach. Dabei denke ich wiedermal an Chris de Burghs Song (The Getaway), der davon spricht, die Regierungen in einen Raum zu sperren, damit sie es endlich unter sich ausmachen können. Und jetzt bin ich fast glücklich, dass es Covid-19 gibt. Denn so sind wir - mehr oder weniger - alle in einem Raum eingesperrt. Es scheint mir, dass es kein Zufall ist, dass jetzt das Programm Covid-19 Pandemie, Wissenschaft vs Glaube, und zugleich - als Spitze des Eisbergs - ein fast unglaublicher amerikanischer Präsidentschaftswahlkampf im Weltweiten Fokus stattfindet. Noch nie wurde so klar, dass wir in einer globalen Arena sitzen und wir alle gebannt auf sich senkende oder hebende Daumen schauen, genau so wie wir das auch in den sozialen Medien machen. Vor ein paar Tagen haben sie im Irischen Fernsehen - mir schien fast begeistert - von einem überraschenden emotionalen Klartext-Ausbruch Jo Bidens berichtet, und auch ich hatte hoffnungsvoll begeistert mit meinen geistigen Daumen nach oben gezeigt. Auch wenn ich meist aussen vor bleibe, weil ich Menschenmassen oft fürchte und meide, so weiss ich, ich bin mitten drin. In meinen Albträumen und in meinen Träumen.

PS: Ab Morgen geht es ernsthaft ans Räumen der Garage. Sonniges Wetter ist versprochen, ein gutes Zeichen :-). "Platzprobleme" und der Umgang damit werden mich auch im nächsten Monat beschäftigen. Sie sind sie ja nicht nur räumlicher Natur, sondern betreffen auch die Welt der Gedanken.

Lied, spontan gefunden in der Garage von Sineads chaotischem Kopf: "Your mother should know", Beatles

Buch: bin immer noch - etwas ängstlich - daran zu lesen, wie es mit dem geplanten Selbstmord von Paloma weitergeht. (siehe oben)

19. - 30. September 2020, im Ein-Nonnen-Konvent der eigenwilligen Schwester Sinead, in Tullow
 

 

1 Kommentar

Regina Schlager, 21. Oktober 2020

„Immer wieder kam mir der Gedanke, dass sie eher die Herzen der Menschen putzt als dass sie wirklich die Böden und Wege wischt.” - wunderbar formuliert.

Herzliche Grüsse, Regina

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