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Warum nicht träumen? 

19. März 2020, Jürg Messmer

Das Leben ist wie ein Traum. Zugegeben, manchmal auch ein Albtraum. Doch wir sind frei, frei zu tun und lassen, was wir für richtig erachten, ja, auch unter den Bedingungen dieser Zeit; wir sind Teil dieser Bedingungen und bestimmen sie gleichzeitig mit. Wir können ruhen, gelähmt sein und warten, oder uns bewegen.

Heute morgen sind viele Vögel auf meiner Terrasse um meine frisch geschnittenen Reben herum geflogen, sie haben gespielt und sich gestritten. Lebendig und, ja, fröhlich. Und ich dachte, eines Tages werde ich mit meinen FreundInnen zusammen fliegen. Oder als Baum Schatten spenden. Oder als Ameise in Reih und Glied frische Blätter tragen, um sie nach Hause zu bringen, wie ich dies mal in Costa Rica in einem Wald beobachtet hatte: eine unglaublich geordnete Spur von Ameisen, als wäre es eine Armee von Soldaten, die eine Autobahn vor sich durch den Wald legten. Ohne Beton und ohne Bürokratie. Eigenartig, sehr schön, berührend.

Doch wir sind keine Ameisen. Wir können, dürfen, müssen oder sollen denken. Gemeinsam jeder für sich seine Stimme erheben. Und zuhören. Vielleicht machen das Ameisen ja auch nicht anders.  Vielleicht sieht unser Leben aus “höherer Warte” ähnlich aus, vielleicht chaotisch. Doch sicher kann man auch in unserem Handeln Muster erkennen. Ich weiss es nicht. Doch wir dürfen Menschen sein, mit allen Vor- und Nachteilen. Wir müssen auch nicht Menschen sein. Manchmal scheint mir, als würden alle Wesen Menschen sein wollen, um diese menschliche Freiheit zu geniessen. So denke ich zum Beispiel an die Sterne, die sich langweilen könnten, weil sie immer ihre Position halten müssen, und mal auf dieser Erde als Menschen so richtig die “Sau rauslassen” möchten.

Es ist auch nicht erstaunlich, dass immer weniger als Baum Schatten spenden, oder sich als Holz für Menschen, die Schutz bedürfen, zur Verfügung stellen wollen. Niemand möchte mehr Wurm sein, denn in Zeiten von Traktoren, mechanischer Landwirtschaft und effizienter Agrochemie ist das wahrscheinlich nicht sehr lustig. Verständlich also, dass wir uns so an unsere Lebensform klammern. Schwierig, das zu ändern. Doch vielleicht hilft ja eben etwas Phantasie?!

Ich denke oft ans Sterben, obwohl ich nicht einmal weiss, was dieses Sterben denn eigentlich ist. Ich bin neugierig.

Ein Baum sein, der Schatten spendet, oder Trost für die, die unter meiner Krone weint und an meinen Stamm sich lehnt, das möchte ich sehr gerne. Ich weiss jedoch nicht, ob ich die Geduld dazu hätte. Ob ich es dann besser ertragen würde, wenn ich im Schatten eines grösseren Baumes stehen würde. Obwohl ich mir ja nicht vorstellen kann, dass Bäume so denken. Sonst wären sie ja Menschen. So denke ich auch an das Schicksal einer Tagesfliege, an jene, die sich auf meine Finger setzt und mich nervt, wenn ich versuche etwas zu schreiben, etwas wichtiges sagen möchte, oder sonst eine wichtige menschliche Aktivität ausübe. Ja, ich kille sie dann - oft - mit einer flinken Bewegung meiner Hände. Ich bin geschickt darin, fast schon lustvoll mache ich das. Schäme dich! Doch nicht einmal ein schlechtes Gewissen habe ich dabei wirklich. Das Leben einer solchen Tagesfliege wäre also eine gute Übergangslösung: ich könnte den Menschen ärgern, ohne es wirklich zu wollen. Ich könnte fliegen, Scheisse fressen - eine Erfahrung! - und ich würde erst noch wieder schnell befreit, eben durch einen solch gnädigen Todesstoss, den ich in meinem “früheren Leben” derselben Fliege versetzt hatte, als sie mich nervte.

Nicht alle schätzen solche Fantasien, das ist mir klar. Doch ich liebe sie. Dann muss ich mir nicht überlegen, was gut wäre, dass es andere tun würden, sondern bewahre mir meine Freiheit, meine kleine Handlungsfreiheit.

Oder eben ein Leben als Wurm? Ich liebe Sinnlichkeit, tue mich jedoch schwer, diese frei zu leben zwischen Menschen. Nein, ich bin nicht verklemmt. Doch ich mache mir Gedanken und die stehen manchmal im Wege. Doch sie sind halt Teil meines Lebens, meines Erlebens und das hat auch seine gute Seiten, ich kann sie mir vorstellen, die höchste Form der Sinnlichkeit. Doch ich stelle mir dann vor, wie ich als Wurm durch die Schollen pflüge, unsicher, ob das nun harte Arbeit ist, die mit Sinnlichkeit belohnt wird. Dieses Einssein mit der Erde, diese Reibung, das Essen das vorne eindringt, sich durch mich hindurch arbeitet, und hinten wieder rausdrängt. Das wäre sicher eine Erfahrung. Und ich habe ja Zeit! Alle Zeit der Welt.

Oder wie wär ein Leben als Virus? Nein, das scheint mir irgendwie nichts zu sein. Träumen davon kann ich nicht. Vielleicht muss ich dies einfach im Traum eines anderen Wesens erleben. Dein Traum? Mein Traum? Welcher ist es denn? Sags mir, ich hör dir zu, auch wenn ich vielleicht nicht so reagieren werde, wie du es dir wünschten würdest! Reiben wir uns aneinander, als wären wir der Wurm und die Erde. Fliegen wir, als wären wir die Vögel oder Insekten in der Luft. Atmen wir wie die Bäume, inhalieren wir das, was die einen nicht brauchen und atmen wieder aus, was andere verwenden können – ohne es zu wissen. Oder seien wir der Mensch, der wir sind, immer wieder auf der Suche nach unserem Platz, inmitten dieser Vielfalt.

Vielleicht sind wir ja auch Zeuge Gottes, doch als solche kaum neutral sondern Teil desselben, Teil Gottes. 

Auch an diesem Morgen waren wiederum viele Vögel am singen und spielen. Ich träume weiter. Und geniesse den Traum, der auch aus dem Albtraum dieser Zeiten geboren worden ist.

PS: Heute gingen wir ein paar Stunden laufen, es war wunderschön. Ein ruhiger Morgen, frei von Angst. Die Farben waren intensiv, der Fluss begleitete uns flüsternd eine Weile, und der See an dem wir rasteten war wunderbar still. Ich sass auf eine Bank und rauchte meine Zigarette, meine Friedenspfeife, beobachtete die Wasservögel auf dem See und sah dieses Funkeln auf dem Wassers, ein Spiel von Wind, Sonne und Wasser. Ich dachte an Lichtwesen, das erste Mal in meinem Leben. Und sah, wie sie tanzten und spielten. Ich versuchte, sie genauer zu erkennen, doch bald waren sie verschwunden, als wären sie von meinem ergreifenden Blick geflüchtet. Zarte und scheue Wesen. Doch gleich erschienen sie wieder und tanzten, ein bisschen weiter weg. Und wiederum entzogen sie sich meinem Blick, und nach einer weiteren Vorführung an anderem Ort verschwanden sie wieder, diesmal endgültig, und ich wusste, ich konnte weitergehen. Vielleicht sind sie scheue Wesen, doch vielleicht haben sie einfach mit mir gespielt, und mir dann den Weg gewiesen. Ich war glücklich zu sehen, dass Leben nicht immer viel Platz braucht. So werden sie mich vielleicht mal in ihren Reihen aufnehmen und ich kann mit ihnen tanzen, und vielleicht einem verlorenen Menschen wie mir selber den Weg weisen. 

Ja, all diese Möglichkeiten! Kein Grund, die Hoffnung zu verlieren!

PS II: Manche sagen ja, die Welt sei eine Illusion, alles sei Illusion. Warum ärgert mich das immer? Immer möchte ich dann laut rausschreien: Was ist denn die Realität? Mein langjähriger Psychiater und Begleiter hat mir kürzlich geschrieben: Warten wir noch mit unserem Treffen, vielleicht wird das Corona-Virus geläutert durch das Osternfest ja noch vernünftig.

Schlagwörter: Hoffnung

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