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Was erlaubt, ist richtig. 

10. April 2020, Jürg Messmer

Es ist Ostersonntag! Ich habe nachgedacht, auch weil meine langjährige Lehrerin und Vertraute aus Guatemala sich mit der Rohfassung dieses Textes (auf Spanisch) auseinandergesetzt und mir geschrieben hatte, du hast völlig Recht! auch, ich verstehe dich!. Im zweiten Teil des Satzes hatte sie jedoch einen leicht anderen Ton angeschlagen, den ich gleich als Rüge empfunden hatte. Zu Recht habe ich das als Mahnung verstanden! Auch habe ich dabei, wie so oft, an jenen Menschen gedacht, mit dem ich mir immer wieder ob diesen Themen in die Haare gerate. Beide Stimmen sind mir wichtig.

Um meinen Standpunkt zu verstehen, musst du wissen, dass ich seit Geburt immer wieder um Atem gerungen habe. Ein verklebter Lungenflügel, durch medizinischen Eingriff gerettet, Lungenentzündung und Brutkasten, und immer wieder Atemnot ohne Ende. Und alle weiteren ärztlichen Bemühungen ohne Wirkung. Zugleich die vielleicht absurde Frage, ob ich denn in dieses Leben gegen meinen Willen gezerrt, oder ob ich mich da rein gedrängt hatte. Ziemlich hoffnungslos also.

Ich war gezwungen, ja aufgefordert, einen eigenen Weg zu finden. Auch rauche ich zudem gerne, bin aufmüpfig, und sage oft, das Rauchen hätte mir das Leben gerettet: die Friedenspfeife!

“Wer's glaubt, wird seelig!”
                oder
“Wer glaubt, wird seelig.”

Farben der Erkenntnis, der Zweifel und der Hoffnung.

[Klage - roh belassen]
Ach Gott, ich bin mal wieder am verzweifeln, könnte laut schreien! Ich verstehe ja all die Umsicht, und ich schätze es, dass der tägliche Irrsinn zum Erliegen gekommen ist. Dass die Natur aufatmet, und die Delphine wieder in den Häfen der Eingesperrten spielen. Und am Abend auch an dieser Hauptstrasse wieder Ruhe eingekehrt ist. Auch dass ich schöne Musik hören und hoffnungsvolle Texte lesen kann, die meine Freundinnen mit mir teilen. Doch langsam wird mir klar, dass ich es auf die Länge so nicht aushalten werde, nur noch in einer virtuellen Welt, in Distanz, mich zu bewegen.

Im Moment mache ich dies sogar auch mit Leidenschaft, mit der gleichen, wie ich sonst anderes mache. Doch eben, langsam treibt's mich an den Rand des Wahnsinns. Ich habe realisert, wie oft ich gelaufen bin und Menschen begegnet, ohne dass sie mich ängstlich anschauten oder mir gar - fast entsetzt - auswichen. Und erst noch ertappe ich mich dabei, dass auch ich das bereits selber manchmal mache - bin bereits infiziert von dem Virus, den ich am meisten fürchte.

Es fehlen die Berührungen, die Umarmungen, Hände, die sich streifen. Blicke, die zwar auch abwesend oder abweisend sein können, sicher, aber immer wieder jene, die lächeln, ohne Angst, und gar solche, die etwas zu versprechen scheinen. Dass die Züge leerer sind, wenn ich sie denn noch überhaupt zu besteigen wage, das find ich ja gut. Doch all die ängstliche Ablehnung, auf die ich stosse, wenn ich einen Besuch auf Balkon oder Terrasse, oder am See vorschlage - auch in der gebotenen sozialer Distanz - macht mit wütend, macht mir Angst. Ich verstehe es ja sogar, und das treibt mich erst Recht in den Wahnsinn.

Ich freue mich drauf, wenn ich Ende Mai aus dieser Wohnung raus muss, weil ich gekündigt habe, und dann auf der Strasse stehe. Gehe ich rechts? Geh ich nach links? Vielleicht mache ich mich dann - bevor ich Richtung Guatemala aufbrechen kann – zu Fuss auf, ab in ländliche Regionen, in die Berge, dahin, wo die Leute noch nicht so ängstlich gebannt auf Covid-19 und fragwürdige Statistiken starren, die alle seltsam vereint und stramm auf eine Linie bringen. Da, wo die Leute noch nicht so recht wissen, oder es nicht wissen wollen, was denn moderne Gesundheit ist - die Dichte der Arztpraxen noch kleiner, und kein Spital mit Intensivstation in Sicht. Wo die Methoden der Erkenntnis auch subjektiv sind, höchstens am Stammtisch Objektivität beschwört wird.

Wo Menschen nicht wissen, dass sie jetzt eben an Covid-19 drohen zu sterben. Nein, nicht an einer einfachen Grippe, auch nicht an Lebens-Müdigkeit, oder dem Wunsch nach Szenenwechsel. Nein, an einer klar identifizierten Krankheit, mit Todesfolge, die zu vermeiden wäre. Und das zu verhindern, klar, eine Frage der Menschlichkeit.

Ich bin glücklich, wenn ich Menschen treffe, die kaum deutsch sprechen, wie der, den wir ab und zu auf dem Weg runter durchs Tobel treffen, und mit dem wir befreit etwas klatschen - Labsal für die Seele. Der strahlend davon erzählt wie er das Salzwasser riecht, und nach Süden zeigt, und von seinen Olivenbäumen. Ich bin glücklich, wenn eine Verkäuferin noch gerne bar auf die Hand nimmt, und mich mit dem Rückgabegeld gleich ohne zu zögern berüht, in mehr als einem Sinne. Wie schön wäre wieder einmal eine spontane Umarmung. Impulsiv, ohne vorherige Absicherung, ohne Zertifikat, dass es im gegenseitigen Willen geschehe, ohne Angst, andere mit sich in den Tod reissen zu können, ohne es zu wissen und ohne dass es sich gehört. Das ist keine moderne Art zu sterben. Und auch mal schmutzige Hände sich berühren können, ohne medizinische Einmal-Handschuhe geschützt, wie sie in den Spitälern verwendet werden. Und ohne Desinfiziermittel, wie ich das gestern mal auch benutzt hatte im Laden, mehr aus Angst, dass andere meine verantwortungslose Nachlässigkeit entdecken könnten. Nachher hatte meine Hand gejuckt und war sehr trocken, fühlte sich seltsam an. Kein Gefühl, dass dies besonders gesundheitsförderlich gewesen wäre.

Wollen denn wir alle nur noch eine virtuelle, und garantiert gesunde und saubere Welt? Ist ja eh virtuell, würde da vielleicht mancher sagen. Oder: vielleicht lernen wir ja, Rücksicht auf einander zu nehmen, und nicht mehr zu drängeln! Ja, gut - das wär nicht schlecht - doch befürchte ich, dass eben das nicht geschehen wird. Wie schnell sind wir wieder zurück im alten Zirkus, im alten Trott. Denn: Was erlaubt ist, ist ja auch - wieder - richtig.
[Klage - roh belassen, Ende]

Doch wer weiss, Wunder geschehen, und der Virus wird noch vernünftig, vielleicht auch wieder etwas mehr poetisch, weniger von Prosa bestimmt - am Tag der Auferstehung.

PS1: Alptraum: der langlebige Cyborg, die Mensch-Maschine, schlimmer als der gnadenlos intelligente Roboter.

PS2: Vielleicht gut, wir hätten mal keinen Plan, obwohl ja auch ich konkrete Pläne liebe. Doch vielleicht könnten wir mal wieder - gleich zu Beginn, auch in der Schule - nicht nur von konkreten und bewährten Zielen (keine Alternative!) oder von als gut erachteten Kompetenzen sprechen – sondern auch darüber, wohin wir denn gehen möchten. Jeder Einzelne.
Vielleicht schaffen wir das ja zusammen. Und auch Unwissen, und Ahnungslosigkeit, sind erlaubt. Klar, kein abrupter Wechsel, nein, nicht grad handeln. Einfach uns etwas besinnen…
Wir haben Zeit, alle Zeit der Welt!

PS3: Süsses, zur Kompensation, von Nachbarin (Geburtstag!), danke! (siehe Foto)

Lied, gesungen von José Feliciano: «Old Turkey Buzzard» .

Schlagwörter: Gegen-den-strich, Gesellschaft

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