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Bin nicht Ich 

5. April 2020, Jürg Messmer

Nein, er hat nicht gesagt “ich bin nicht Ich”, aber dass er bei ihr in Lima “mehr Ich” sei, mehr sich selber sein könne. Das hat mich schon ein bisschen getroffen.

Denn seit mehr als fünf Jahren kommt er regelmässig zu mir auf Besuch, weil er seither immer zwischen Peru und der Schweiz hin- und hergependelt ist, sagen wir mal auf der Suche nach dem Glück, oder nach dem Gleichgewicht, nach einem abwechslungsreichen Leben, oder vielleicht ja eben auf der "Suche nach sich selbst” – und dem Platz, wo er Ich sein kann, sich selber ist.

In Lateinamerika hatte er sich wohl gefühlt, das sah ich gleich, als er das erste Mal aus Peru ankam, er sah gesund und kräftig aus, und schien ein anderer zu sein als der, den ich von früher her gekannt hatte. Er kam, weil er in der Schweiz einen Arzt aufsuchen wollte, der seine Prostata in Ordnung bringen würde. Nach ein paar Operationen in Lima hatte er den peruanischen Ärzten nicht mehr getraut und hoffte, dass in der Schweiz sein Problem gelöst werden könne. Nur ein paar Tage hatte er bei mir wohnen wollen, wie er mir damals geschrieben hatte, und ich dachte ja, warum auch nicht, ich habe ja Platz, und bin ja auch auf der Suche nach dem Sinn und daran, meine inzwischen zu grosse Wohnung mit Sinn füllen zu können. Daraus sind nun mehr als fünf Jahre geworden. Seine Prostata hat sich inzwischen etwas beruhigt oder ist etwas bescheidener geworden, so dass er nicht mehr immer an sie denken muss.

Seit mehr als fünf Jahre ist er also immer wieder bei mir, mehr als ein Jahr im Ganzen, und jetzt sind wir durch das Corona-Virus zusammengeschweisst, ja gar sowas wie Lebenspartner, geworden. Mindestens auf Zeit. Es fühlt sich gut an, ich bin dankbar, dass er hier ist. 

Aber eben schon auch etwas verletzt, dass er bei ihr mehr sich selber sein könne als bei mir. Es war nur ein kurzer Gedanke, ein feiner Schmerz, mehr eine Verletzung der Eitelkeit, und ich fragte ihn, wieso denkst du, dass du hier bei mir weniger Ich sein kannst? Was bist du denn hier anders als ich, als du? Gut, ich verstehe ihn ja auch ein bisschen, wir haben manchmal ein unausgewogenes Verhältnis, eine Art Gefälle. Er ist bei mir auf Besuch, er hat weniger Geld, er ist weniger gebildet - rein bildungsmässig-schulisch-diplomartig meine ich natürlich – und zwei Jahre jünger, und er war vor Jahrzehnten mal sowas wie mein Patient. Das heisst, ich war ja auch Patient (sog. Therapeutische WG), aber irgendwie ein fortgeschrittener, der gemeinsam mit anderen zusammen sich damals seiner angenommen hatte.

Er war immer schon ein zarter Junge gewesen und schien irgendwie unfähig, in dieser harten Welt zu bestehen. So ist er noch immer. Obwohl er sich ja eigentlich sehr gut zurechtfindet. Er findet ja auch immer wieder einen Ort, lebt ein vielfältiges Leben. Viele haben ihn gerne, vielleicht etwas eigen, und er findet immer Unterschlupf. Kurz: ein Lebenskünstler. Und das gefällt mir. Ein Bruder, Brother in Arms kommt mir da in den Sinn.

Trotzdem besteht dieses eigenartige Gefälle immer noch weiter, wahrscheinlich einfach, weil er immer ein klein bisschen schussliger ist als ich. Ein klein wenig. Ein kitzeklein weniger. Ich bestehe darauf. Also fliessen die Ratschläge eher von mir in seiner Richtung, als umgekehrt. Das kann nerven. Ihn, aber auch mich. Doch es ist wie ein Naturgesetz. Ich zünde ihn immer etwas an, und er verteidigt sich dann, das jedoch immer ein bisschen gekonnter. Also ist er jetzt mehr sich selber, nicht?

Solche Vorstellungen treiben mich in den Wahnsinn, bringen mich zur Verzweiflung, denn wie soll man nicht sich selber sein, nicht sich sein können? Das ist fast schon die Gretchenfrage! Verzeiht, wenn ich das Gretchen hier zu Unrecht an den Haaren herbeizuziehen scheine, doch so ist es nicht. Sie ist mir einfach in den Sinn gekommen, mir zu Hilfe gesprungen. Von an den Haaren ziehen kann keine Rede sein. Das Blöde an seiner Behauptung, dass er hier weniger Ich sei als er es sein könnte, stellt mich natürlich auch vor die Frage, ob ich denn wirklich mich selber bin? Und ja, das ist ärgerlich. Schon wieder so ein Moment, wo ich denke, muss ich denn noch mehr Ich, mich selber, also immer wieder noch besser werden? Reicht es immer noch nicht?

Ach Gott, all diese Ideen, die doch auf dieser Welt herumfliegen und Verwirrung stiften.

Wir haben ja tausend Ideen, und nicht nur schlechte. So gibt es ja die Verschwörungstheorien, rund um Nine-Eleven zum Beispiel, und jetzt auch in Form der Befürchtung von Erika in Guatemala, dass jetzt dank Covid-19 eine Gruppe von Leuten die Macht ergreifen, die Schraube anziehen, und volle Kontrolle über uns erlangen wolle. Ay, Ay, Ay, das trifft auch einen wunden Punkt in mir. Es ist ja schon erstaunlich, dass jetzt die ganze Welt auf einen Klapf heruntergefahren worden ist, als wäre der Wüstenfuchs auf dem Weg nach Bagdad. Doch nein. Das glaube ich nicht. Nein, dass ist eine allzu perfekte Organisation, das kann nicht einer Gruppe von Kontrollfreaks gelingen. Klar, die sind ja nicht dumm, doch so intelligent und gut organisiert, und so mächtig sind diese nun auch wieder nicht. Sorry guys, für das braucht es schon etwas mehr Grips! Und Macht! Und ja, das ist Gott. Und Gott jetzt mal erst noch so ganz sich selbst. Der Virus. Witzig!

Strafe Gottes? Quatsch. Ein klein bisschen vielleicht, je nach Betrachtung. Er hat uns ja länger schon auf seiner Watchlist, wir wissen es ja selber: Wir leben über unsere Verhältnisse und machen die Welt und uns selber kaputt. Wir sind nicht das, was wir sein könnten oder müssten. Wir sind nicht wir selbst, so irgendetwas. Doch natürlich sind wir wir selbst. Der Mensch ist schlecht, gierig, neidisch und eifersüchtig! Und manche glauben, dass der Mensch immer so bleiben wird. Man ist ja, was man ist. Ich bin der Jürg. Punkt.

In welchen Schlamassel haben wir uns da reingeritten! Und Gott schaut einfach zu? Ja, klar, er weiss es ja auch nicht besser, er ist Teil des Experiments. Ja! Kein unbeteiligter, objektiver Betrachter, das ist nicht einmal Gott. Vielleicht die Wissenschafter, die sind ja schon weit gekommen in der objektiven Betrachtung und Erkenntnis der Dinge. Sie haben den Corana-Virus gleich als Feind erkannt und wissen, dass wir ihn bekämpfen müssen, und dass das nur mit totaler sozialer Distanz, global orchestriert, funktionieren kann. Doch entschuldigt, es sind ja nicht die Wissenschafter, aber einige, oder viele, natürlich anerkannte. Und deren Erkenntnis, oder Meinung, ist nun halt auf offene Ohren gestossen. Ist auch logisch, denn ihre Meinung ermöglicht es ja erst, dass wir handeln können, wir die Kontrolle nicht verlieren. Die Lösung des Nebenwirkungen werden wir dann ja schon noch hinkriegen. Kommt Zeit, kommt Rat. Doch jetzt Kontrolle. Das hat ja auch sein Gutes, ist aber schon etwas lästig, vor allem wenn man - wie ich - Leute gerne umarmt, berührt. Ja, auch mit meinen Körperteilen, nicht nur mit meinem Geist.

Wie immer bin ich wieder einmal auf Gott gekommen. Natürlich aus Verzweiflung, und weil mir einfach kein besserer Name in den Sinn kommt. Und ich will ja die Dinge beim Namen nennen können. Das ist eine menschliche Sucht. Schlecht, aber auch irgendwie schön. Einfach eigen. Dumm irgendwie, aber eröffnet auch einen Reigen an Möglichkeiten.

Da hat doch dieser Pfarrer gestern im Wort zum Sonntag gesagt, dass Gott uns die Soziale Distanz gleich selber verordnet hätte und wir doch dieser Verordnung Folge leisten sollen. Gottes Stimme könne ja aus vielen Quellen kommen, ja auch aus der Stimme der irdischen Vernunft, der richtigen Anordnung zur rechten Zeit. Gott hätte eine komplexere Ordnungsaufgabe als dass er nur den langjährigen Gläubigen hätte retten können, der gebetet hatte, dass er nicht im Haus verbrenne. Er verbrannte also trotzdem, und beklagte sich nachträglich, dass Gott ihn - ausgerechnet ihn, den treusten Gläubigen - nicht erhört hätte. Recht hat er ja mit seiner Klage. Wer will denn immer gut sein, sich Mühe geben, und dann trotzdem bestraft, oder nicht gehört werden. Ich will ja auch gehört werden. Was ist denn mit  meiner Stimme? Na ja, die Kirche und die Obrigkeit haben ja immer wieder gut zusammen gearbeitet. Die Kirche muss ja im Dorf bleiben.

Doch ich rauche, erinnere mich, wie ich Sch..... sagte: wenn du willst, dass ich lebe, dann lass mich leben. Und sonst könne er mich mal. Also ich prüfe Gott. Doch auch ich weiss, dass Gott wichtigere Arbeit hat, als auf so einen aufmüpfigen Raucher zu achten. Doch aber auch: Wie soll er seine Aufgabe denn gut für alle machen können, wenn er es nicht einmal bei einem Einzelnen schafft? Nicht einmal bei mir. Das kann ja nicht gut gehen. Da kann er mir eben gleich den Buckel runter rutschen. Denn immer nur zu sagen, dass man Wichtigeres zu tun hätte, als auf jemanden wie mich zu achten, das geht einfach nicht. Das ist mir zu billig. Die Welt retten, dass kann ja jeder. Das machen wir ja alle, auch die anderen.

So hat Hans gestern gesagt, dass wir ja eh untergehen werden, das sei nur eine Frage der Zeit. Laut, klar und deutlich. So wie noch nie. Welches Selbstvertrauen. Als wäre es Gottes Wort! Warum machst du dann nicht gleich Selbstmord? fragte ich ihn. Es spiele keine Rolle, er könne auch gleich auf das Ende warten! Ja, stimmt, dann muss man sich die Finger nicht dreckig machen, so etwas ähnliches dachte ich. Nein, nicht gestern, erst jetzt. Doch es ist trotzdem so, als hätte der Dialog gleich gestern so stattgefunden.

Ich erschrak, und fragte mich, ob er Recht habe!? Doch nein, das kann nicht sein! Wer hat jetzt recht? Es kann nicht sein, dass das Projekt Mensch einfach nur Scheisse ist, dass ich Scheisse bin. Das kann nicht sein. Natürlich ist es nur so gut, wie wir es machen. Das ist kompliziert - aber doch auch interessant.

Anna hat sich darüber aufgeregt, dass manche Leute diese Corona-Krise, deren Ursache ja jetzt wissenschaftlich bereinigt und objektiviert als Covid-19 sein erkanntes Unwesen treibt, als Geschenk betrachten, als Zeichen der Veränderung, als Aufruf, es anders zu machen. Sie glaubt jedoch nicht an sowas, noch daran, dass der Mensch sich ändert. Und sie hat ja recht. Wir werden nicht besser werden. Doch wer sind wir, wer bin ich? Veränderung ist nicht nur möglich, alles verändert sich. Das ist das Problem mit der Suche nach dem wahren Ich, man erwartet was mit klaren Eigenschaften, kurz erhascht der Suchende einen Blick, und gleich ist es wieder weg. Wie das Glück, nach dem man greift. Wie die Lichtwesen, die ich gestern mit meinem Handy festhalten wollte. Es geht einfach nicht. Punkt.

Nun sind wir also festgenagelt. Und ich scheine nicht mehr auf meine geplante Reise gehen zu können. Doch wieso nicht? Keine Ahnung. Nur: es ist ja noch nicht aller Tage Abend. Ich bin Ich. Und von hier, ja von hier aus gehe ich weiter. Und packe es an, mein Leben – bei den Eiern. Du nicht? Oder bist du noch nicht Ich, noch nicht dich selber? Wer denn sonst?

Ach Gott, wieder mal komme ich zur Hoffnung, zum Versprechen, das noch einzulösen ist. Ostern steht vor der Tür.

Ein Dichter hat mal geschrieben, dass Versprechen Verbrechen seien. Das Wort brechen. Das Versprechen nicht halten. Doch ich glaube, dass Versprechen immer eingehalten werden, es ist nur eine Frage der Zeit. Und wir haben alle Zeit der Welt, denn alles was geboren wird, hat einen Zweck - wie die Zeck - und muss wieder verschwinden. Es hat eben keinen Zweck an sich, für alle Ewigkeit, sondern macht nur Sinn in diesem Augenblick. Doch dieser Augenblick kann unendlich dauern. Ja, das Versprechen wird eingehalten. Es ist sozusagen eine mathematische Notwendigkeit. Keine moralische. Nein. Reine Mathematik.

Endlich hab ich's geschnallt: Mathematik ist die einzige reine Wissenschaft. Alles andere ist Beilage. Doch Beilagen liebe ich, manchmal mehr als die Essenz. Denn was wäre die Hauptspeise, wenn es die Beilage nicht gäbe? Es wäre langweilig. Nur die nackte Wahrheit? Ach Gott, nein, die nicht. Oder wenigstens nur in homöopathischen Dosen. Oder besser bitte mit Sahne! (bin ein Schleckmaul, Gottes Junky). Wie dieses Corona Virus. Ist ja eigentlich nichts, doch hat es offensichtlich grosse Wirkung. Doch welche? Die liegt in unseren Händen. Nein, ich sage nicht, dass dieses Virus nur ein mentales ist. Er ist real. Sozusagen mental real, oder real mental. Kommt auf’s gleiche raus.

Gott sei Dank. Ich bin Ich. Doch in der Zwischenzeit habe ich natürlich verstanden, warum Hans manchmal noch nicht, oder anderswo mehr, besser sich selber sein kann. Es ist spannend, was man alles erlebt, auch wenn man ja auf der Suche durch die Gegend stolpert!

PS: oder nicht? Auch gut. Es ist, “Was es Ist” (Erich Fried lässt grüssen). Mach mal Pause! Zigi, Friedenspfeife.

PS II: Song zum Text: "I'm your man" (Leonard Cohen)

Persönlichkeitsschutz: Ich wurde gefragt, wie ich so etwas heikles und persönliches veröffentlichen könne? Ich kann, denn ich hatte Hans gefragt! Er hatte ob der Geschichte geschmunzelt, und bei dieser Frage gelacht und gesagt, dass er ja nichts zu verlieren hätte! Das verstehe ich gut. Und habe deshalb diesen Text also in seinem Einverständnis veröffentlicht. Danke Hans! Danke auch für die Frage.

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