Geschätzter Wille!
1. Mai 2020, Jürg Messmer
Was für ein Titel für einen Text in einem Reise-Blog? Sicher wieder so etwas, wo man am Schluss nicht mehr weiss, wo einem der Kopf steht, und sich fragt, warum dieser Text jetzt genau diesen Titel trägt. Ich versuche mich zu bessern!
Dieser Text ist ein Auftragstext, ich schreibe ihn, weil mein fast einziger Fan, der mich eben schätzt, sich dies gewünscht hat. Und das nach erst fünf Tagen, während denen er keinen Text mehr von mir hatte lesen können, und das bereits vermisste. Das berührte mich sehr. Dein Wunsch, mein Befehl, mein Auftrag!
Das eigenartige daran ist ja, dass er meine Texte immer auf meine Bitte hin gelesen hatte. Ich suchte seine Meinung zu den Texten, bevor ich sie veröffentlichte, um mich zu vergewissern, dass wenigstens Einer meinen Text zu schätzen weiss. Dann riskiere ich die Veröffentlichung. Ich brauche einen Leser. Einen. Also mindestens, wenigstens mich selbst, aber eben lieber einen Anderer, eine Andere. Du. Das gefällt mir einfach besser.
Obwohl er diesen Auftragstext ja gewünscht hatte, hatte er mir das Thema nicht vorgeben wollen. Das wäre einfacher gewesen. Auch meinen Vorschlag, den Text "Es gibt jemanden, der zu schätzen weiss” zu nennen, hat er nicht kommentiert. Also ist mir dann der Wille in den Sinn gekommen - nicht der General - sondern der Wille des “You can get it if you really want”, der mir gestern anlässlich eines TV-Portraits von Roger Schawinski wieder in Erinnerung gebracht worden war - sozusagen das Markenzeichen dieses Menschen. Er, der so viel erreicht hat! Weil er es wollte! An dieser Botschaft habe ich mich mein gefühlt ganzes Leben lang abgearbeitet. Diesen Schawinski hatte ich immer als vorlaut und überheblich empfunden. Es stimmt, ich hatte ihn bewundert, doch er hatte auch sehr genervt. Ein wandelnder Vorwurf an meine Unfähigkeit, einfach richtig zu wollen. Punkt.
Woher hast du denn diesen Willen?! Ist er deiner, deine eigene Erfindung?! Deine Leistung?!
Doch gestern - muss ich zugeben - habe ich ihn sehr geschätzt - den Schawinski - und ihn im Nachhinein auch von ganzem Herzen, gleich von A-Z, rehabilitiert, vielleicht einfach, weil er für einmal nicht sich selber gelobt, sondern die Ehre weitgehend seinen Eltern, seinen Umständen und dem Leben gewidmet hat. Ay, trieft dieser Satz von Moral, ich töne ja schon bereits wie mein geschätzter Auftraggeber! Es gibt viel zu lernen.
Die Schlüsselstelle im Verhältnis zu diesem geschätzten Wille ist ja “du musst nur wollen!”. Hör doch auf zu rauchen, das ist ganz einfach, du musst einfach nur wollen! Doch ob ich überhaupt aufhören will, das fragt mich keiner. Denn das nicht zu wollen, macht keinen Sinn. Es ist ja klar (laut Statistik), dass Rauchen zum Tod führen kann. Darum darf man auch nicht sagen, dass man rauchen wolle oder das gar gerne mache. Nur Spinner können so denken. Gegen diese Vernunft ist kein Kraut gewachsen. Sie steht wie eine Mauer. Also sage ich dann einfach bekümmert, ja verzweifelt, ich kann nicht aufhören, und frage: Wo finde ich den Willen, das Richtige zu wollen, auch wenn ich den Tunnelblick der modernen Erkenntnis nicht als richtig erachte, nicht möchte, dass dieser alles bestimmt? Solche Fragen haben mich immer in den Wahnsinn getrieben. Meine Bitte: Überzeugt mich, lasst mich das rauchen vergessen. Aber das ist natürlich nicht die Haltung eines erwachsenen und unabhängigen Menschen.
Wie immer befürchtete ich also, dass ich etwas tun sollte, oder wollen können sollte, das ich so nicht kann. Dein Wille, mein Wille. Wie wenn ich nicht liebe, aber lieben sollte. Eigentlich durchaus eine Idee, die wir teilen, wie aber auch die Frage, was Liebe denn überhaupt ist und wie sie geht. Patt oder Schachmatt? Immer war ich auf der Suche nach dem losen Ende dieses verwickelten Wollknäuels, von dem her man die Verwicklung am einfachsten wieder entwickeln könnte, um die Schnur nicht gleich ganz wegwerfen zu müssen - als wäre es das eigene Leben. Wer will denn das Kind gleich mit dem Bade ausschütten?
Diesen unbeugsame Wille meines Auftragsgebers, Dinge, Leute, Andere zu schätzen, habe ich immer mehr bewundert. Auch gehasst, s’hat genervt, vor allem früher. Schleimer, nein, das nicht, aber anderen es immer Recht machen, sie gar zum Glück zwingen, schrecklich langweiliger positiver Denker! Das regt doch auf. Mein liebstes Hobby ist ja immer, andere zu kritisieren, oft heimlich, im Versteckten, also meine Selbstkritik grosszügig mit anderen zu teilen. Ja, das teile ich immer gerne, doch immer in der Angst, gerade dies nicht teilen zu dürfen. Man sollte andere ja nicht kritisieren, sich selber an der Nase nehmen, vor der eigenen Türe wischen. Nein, bei Anderen nicht, nur bei sich selbst. Dem Anderen nicht den Tod bringen, diesen Unerwünschten und Verkannten, weil man vielleicht seine Hände nicht gewaschen hat. Den Tod lieber mit sich selber ausmachen. Da, wo er hingehört. Bei sich selbst. Also rauchen, das klappt. Doch auch das ist nicht erwünscht, das schlechte Beispiel ist nicht erwünscht, es könnte sich als zu attraktiv erweisen, oder fürchten sie, mich dann vermissen zu müssen? Oder werden sie an das grosse Unbekannte erinnert? Ja, richtig teilen ist schwierig, eine Herausforderung. Ohne die Kritik der Anderen, stellvertretend für mich selbst, hätte ich voraussichtlich nicht gelernt, das Teilen zu schätzen.
In der Zwischenzeit habe ich ja auch gelernt, denjenigen zu schätzen, der sowas wie mein grosser Bruder punkto nicht wissen, was man will ist. Er ist ein Meister. Immer wollte ich ihm zeigen, dass auch er einen Willen hat, doch er entwischt mir flink und bleibt dabei, nicht zu wissen, was er will. Dabei weiss er es genau. Seine Wille ist einfach nicht alltagstauglich. Er will es vielleicht deshalb gar nicht wissen. Er bleibt der Zarte, der er ist. Er hat diesen unbeugsamen Willen zum Zarten, zum Unsicheren, zum Verunsicherten, und durch ihn habe ich gelernt, auch meine Unsicherheit zu schätzen, und darin einen Willen zu erkennen.
Über den Willen könnte ich noch lange schreiben, und darüber, dass ich ihn auch schätze. Manchmal ein schwieriger, aber auch geschätzter Gast. Der Wille zum Guten, der Wille zum Salz und Pfeffer, der so manchem allzu Süssen wieder zur richtigen, erträglichen, Mischung verhilft. Die Gewürze müssen ja nicht immer ausgewogen verteilt, in einer Person oder einem Gericht, vorhanden sein. Man darf sich gut auch mal ärgern, und beklagen, auf dass das Gericht einen eigenen, wenn auch unausgewogenen Geschmack erhält. Mit einem leicht anderen Blick kann nämlich Unausgewogenes gleich sich als ausgewogen zeigen. Der Blick entscheidet.
Gestern hat mir ein Freund geschrieben, erstaunt, dass ich trotz Corona-Virus und Reisesperre auf meiner Reise beharre. Dieser Wille. Natürlich habe ich mich gefragt, woher denn dieser Wille komme, den ich in der Zwischenzeit ja auch schätze? Ich weiss es immer noch nicht. Vom Kopf, aus dem Herzen? Ruft die Aufgabe? Ich will ja nicht gehen, nicht verlassen. Nein, ich wollte nie, nie, nie verlassen, nie, nie, nie verlassen werden. Doch weil ich herausgefunden habe, dass auch der verlorene Sohn immer, immer, immer wieder den Weg nach Hause findet, so bin ich es langsam am begreifen, und hoffe, dass auch du erkennst, dass ich dich nicht verlassen will. Ich möchte nur, mehr noch mit dir teilen. Die ganze Welt. Meine Welt. Deine. Unsere. Mutter Erde. Dein geschätzter Wille geschehe.
PS: Inzwischen habe ich dieses Lied mehr zu schätzen gelernt, einen anderen Blick darauf geworfen, anders hingehört. Jimmy Cliff meint: “You can get it if you really want”. Was auch immer. What ever.
Buch: Die Bibel? Ach Gott, zu verwirrlich, welche Übersetzung, welche Quelle? zu wild und widersprüchlich die Geschichten! Am liebsten höre ich sie aus dem Mund derjenigen, die sie erzählen, die sie leben, jede auf ihre Weise, oder seine.
Ein weiteres Lied, weil es irgendwie passt, Aretha: “You make me Feel like..."
Buch-Alternative zur Metaphysik: Fritz (Frederick) Perls “In and Out the Garbage Pail". (Appreciate Differences)
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