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Ich und die Krone 

14. Juli 2020, Jürg Messmer

Als ich vor zehn Tagen im Hafen von Dublin ankam und mir die Migrationsbeamtin erstaunlich schnell und lächelnd erlaubt hatte, diese graue und feuchte Inselwelt zu betreten, fragte ich den Chauffeur des bereitstehenden Shuttle Busses, ob ich auch zu Fuss in die Stadt laufen könne, was er zu meiner Freude bejahte. Ich muss einfach die Füsse auf dem Boden haben, und meine Umgebung langsam erkunden, um mich zurechtfinden zu können - selbst wenn es nieselt. Auf meine Bemerkung zum schlechten Wetter meinte er lachend, deshalb bist du ja nach Irland gekommen. Ok! Ich war angekommen, in Irland. Es ist gut, auch einen Fuss im Himmel zu haben.

Wer meine Geschichte kennt, der weiss, dass ich aus Not ja eine Zeitlang immer wieder die Drehtüre der Psychiatrie benutzt hatte, aus Verzweiflung. Ich war gezwungen gewesen, die Versuchsanlage etwas zu vereinfachen. Selbsterkenntnis ist keine einfache Sache, und der Verdacht liegt nahe, dass das Gefängnis im Ich selber liegt. Wenigstens habe ich das von Leuten gehört, von denen ich glaubte, dass sie es wissen würden. Das Ich, aus der Notwendigkeit geboren, am Ort und zur Zeit des Geschehens, in einem Körper, sich zurecht zu finden. Die Unsicherheit, ob dieses Ich nun wirklich existiert oder eine einfach Illusion ist, macht die Sache etwas komplizierter. Das Ich existiert ja nur in der Erfahrung in Raum und Zeit, und der Notwendigkeit, darin zwingend eine Position einzunehmen. Alan Watts hat recht, wenn er vom Tabu, zu wissen wer Ich bin, spricht. Der Titel packte mich gleich. Tabu ist vielleicht nicht das richtige Wort; den Weg der Erkenntmis in einer Welt der Erfahrung zu beschreiten, ist eher ein geheimnisvolles Abendteuer, und Erfahrung und Erkenntnis keine Gegensätze.

Noch vor kurzem wollte ich mich wieder einmal in die Psychiatrie flüchten, ich sah keinen anderen Ausweg, mein zugegeben etwas gewagter, wenn nicht irrer, Plan, von der Schweiz nach Guatemala auszuwandern, war von einem anderen mysteriösen Fahrplan durchkreuzt worden, dem des Coronavirus, beziehungsweise dessen, was wir aus diesem Nichts machen, das wir so präzis Covid-19 nennen. Doch selbst in dieser Sackgasse musste ich schnell erkennen, dass mir vermutlich die Pause im Klinikpark, das unbedarfte Geniessen von alten Serien wie “Eine schrecklich nette Familie” um ein Uhr früh, und das Kennenlernen einer mir wohlgesinnten, etwas eigenen aber liebevollen, Nachtschwester versagt bleiben würde - genau so wie dies Anna bereits vor zwei Jahrzehnten mal angekündigt hatte, du kommst nie mehr in die Klinik!

Damals war ich bass erstaunt ob ihrer Sicherheit. Sie hatte vermutlich recht, doch aus heutiger Sicht tönt dies eher hämisch nach so einfach machen wir dir das nicht!. Doch erst mal bedankte ich mich natürlich, denn für das Ego gibt es natürlich nichts besseres als zu wissen, dass man die Psychiatrie nicht mehr braucht, welche Eigenleistung! Etwas weniger angenehm ist es jedoch zu erkennen, dass man die Psychiatrie nicht mehr brauchen kann oder darf. Auch diese Tür bleibt also verschlossen. Daraus kann ich nur schliessen, dass womöglich die ganze Welt bereits ein Irrenhaus ist :-)

Ich kann gut verstehen, dass das neue Coronavirus uns auf die statistischen und medizinischen Errungenschaften hat fokussieren lassen, denn diese beherrschen wir in der Zwischenzeit ja recht gut. Klare Zahlen in übersichtlicher Darstellung auf schönen Bildschirmen, schnell kommuniziert, und moderne technische Möglichkeiten, eignen sich ja hervorragend, um dem Chaos zeitweise Herr zu werden, vor allem wenn man über genügend Geld und Raum verfügt, und vielleicht auch genügend Einfalt, um diesen Weg überzeugt beschreiten zu wollen und können. Wir sind ja praktische Wesen, und im Basteln hervorragend geübt. Ich nehme an, das unterscheidet uns von anderen Spezien, die enger in dieser Welt verankert sind, die wir mit ihnen teilen.

Als Mensch mit dürftiger Abgrenzungsfähigkeit bin ich - wie bereits früher erwähnt - auch Verschwörungstheorien nicht abgeneigt. Sie üben einfach eine gewisse Anziehungskraft aus, das Körnchen Wahrheit ruft wie die Sirene den Seemann. Doch vielleicht ist es besser so, wenn diese Saat nicht gedeihen darf, denn das könnte leicht ausufern. Trotzdem denke ich manchmal, dass es sich beim Coronafieber eher um eine globalisierte Massenhysterie handelt, also sich eher um ein Thema für Sozialpsychologie und politische Wissenschaften, als um ein eng eingrenzbares virologisches Phänomen, das man mit geeigneten Desinfizierungsmitteln, Medikamenten und Impfstoffen, und entsprechendem Beilagezettel so einfach zähmen könnte. Doch diese Vorstellung ist natürlich noch viel beängstigender.

Stell dir vor, es würde sich um eine Massenhysterie handeln, dann wären wir erst recht überfordert. Die geeigneten Institutionen würden schon beim Gedanken daran platzen, viel mehr, als wenn wir nur den Mangel an gut ausgerüsteten Intensivstationen für Privilegierte befürchten müssen. Wie hätten diese Massen denn in den Psychiatrischen Anstalten Platz? Müsste dann nicht gleich dieser ganze Planet zur Irrenanstalt deklariert, zum globalen Notstandsgebiet erklärt, und das menschliche Bewusstsein als Herd der Erkrankung bestimmt werden? Und wer würde sich als Führer in diesem Chaos dann eignen, wenn selbst die Fachleute als Teil der Erkrankung erkannt werden müssten? Ich nicht, um Himmels Willen. Nein, so geht das einfach nicht. Eine solche Erkenntnis wäre schlicht und einfach nicht praktikabel.

Die Diagnose darf also nicht ergebnisoffen gestellt werden. Diagnosen helfen ja nur, wenn man auch die Mittel gegen die so bestimmte Erkrankung kennt, oder wenigstens das Finden eines Mittels im Bereich des Möglichen liegt, sonst wäre die “haltlose” Diagnose ja geradezu ein Todesurteil. Eine Diagnose ist eben eine sehr praktische Sache. Sie dient nicht dazu, die Wahrheit zu erkennen, denn die gibt es nicht, doch sie hilft, uns den Handlungsspielraum zu erhalten. Man kann sich nicht auf Körper und Seele, den Menschen und seine Umwelt konzentrieren, um herauszufinden, was denn da wirklich passiert. Man fokussiert sich demnach besser auf das, was man sehen und messen kann - vielleicht die Lunge, das Gehirn, oder den Stoffwechsel - um mit vorhandenen Mitteln erkennbare Ursachen finden zu können, die man mit wiederum verfügbaren Mitteln bekämpfen kann. Eben keine Frage von Wahrheit oder Objektivität, allein die Geschichte muss überzeugend sein, die wir erzählen. Wenn sie überzeugt, dann wird sie auch wahr.

Diese Situation kenne ich natürlich sehr gut. Oft zweifle ich an meinem Geisteszustand und frage mich, ob all meine Unsicherheiten und Denkweisen einem pränatalen oder postnatalen Sauerstoffmangel des Gehirns zu verdanken sind, Anzeichen dafür gibt es einige. Sich diese Frage zu stellen scheint jedoch aussichtslos, denn die Antwort wäre ja je nach der Beantwortung der Frage nach dem Sauerstoffmangel eine andere, also weder objektiv noch unabhängig. Also ist auch die Antwort auf die Frage, ob auch die Wissenschaft solchen Unsicherheiten unterliegt, aus meiner beschränkten Sicht nicht zu beantworten.

Solch schwierige Überlegungen haben mich immer wieder fast erdrückt, wie eine Kakerlake, die unter dem Fuss eines genervten Menschen zerquetscht wird. Unangenehm, das Gefühl. Einfacher also, mich in eine Depression zu flüchten und mir eine Pause zu verschaffen, den Ball mal flach zu halten. Und dabei helfen Medikamente. Das Medikament hilft ja dann auch gleich dabei, die Umgebung zur Ruhe kommen zu lassen. Natürlich hatte es mich genervt, dass ich es war, der das Medikament einnehmen musste, um eine verfahrene Situation zu retten. Da kommt man sich schon schnell als Lamm vor, das dem Gott des Chaos geopfert wird, auf dass er uns etwas Ruhe gönnen möge. Doch klar, man setzt ja den Hebel da an, wo er mit einfachen Mitteln am meisten Wirkung erzielt. Man ist ja auf die Mittel angewiesen, die zur Verfügung stehen. Selbst ich begreife das in der Zwischenzeit.

Seit längerem habe ich mich aus diesem Zwiespalt befreit, indem ich keine Medikamente mehr nehme. Vielleicht hat sich mein Bewusstsein in der Zwischenzeit erweitert, doch das glaube ich kaum. Mein Bewusstsein hat sich nur am neuen Ort und der neuen Zeit ausgerichtet. Das Bewusstsein kann sich nur ausweiten, wenn auch das Universum sich ausweitet. Und wer kann wirklich beurteilen, ob sich das Universum ausbreitet oder ob es schrumpft. Die Wahrheit gibt es ja nicht, sie wandert, von einem Ort zum andern.

Mein grösste Frage ist, kann ich mir vertrauen? Ich habe lange an mangelndem Selbstvertrauen gelitten und den Weg der Psychologie beschritten, immer auch unter Einbezug von spirituellen Fragen. Dabei habe ich gemerkt, dass nicht das mangelnde Vertrauen in mich selbst das Problem war, sondern die Frage, was dieses Selbst denn ist. Langsam habe ich erkannt, dass dies niemand anderer für mich bestimmen kann. Ich bin der Einzige, der diese Frage für mich beantworten kann, dass es dazu weder eine allgemeingültige noch eine endgültige Antwort gibt. Dass nur ergebnisoffene Aufmerksamkeit da hilft. Dass Lernen nicht nur ein Anhäufen, sondern auch ein ewiges Entschlacken ist. In der Schule werden wir dazu nicht gut vorbereitet.

Doch gleichzeitig gilt, dass man die Umstände nicht ändern kann, nur das genaue Hinschauen üben. Und das kann man ja nur mit den Augen, Ohren, mit den Sinnen und dem Gehirn, das uns zur Verfügung steht. Keine idealen Bedingungen. So merke ich auch, dass ich immer wieder die richtige Lösung finden will, und die anderen von einer Allgemeingültigkeit überzeugen möchte. Ich glaube, dass das für ein soziales Wesen auch unvermeidbar ist, doch das das Scheitern auch programmiert ist. Das gleiche gilt auch für die Verantwortung. Wir sind uns gewohnt, uns sagen zu lassen, was Verantwortung ist. Doch sind wir nicht jeder einzelne gefragt, auf seine Art, ich an meinem Ort, mit meinen Mitteln so etwas wie Verantwortung zu erkennen? Meine Art, Verantwortung zu übernehmen ist ganz in meiner Erfahrung verankert.

Die Angst vor Isolation ist meine stärkste Triebkraft. Nur ein psychologisches Problem? Ja vielleicht. Doch eben auch meine Gabe an meine Nächsten. Ich möchte keine Maske tragen. Sie macht für mich keinen Sinn. Sie ist für mich das Symbol vom Menschen als getrenntes Wesen. Doch das bin ich nicht. Ich bin auf Leben und Tod mit meiner Welt verbunden. Und ich möchte leben und weiss, dass auch der Tod, die radikalste Veränderung, darin inbegriffen ist. Das ist eine Form von Schicksalsergebenheit, die jedoch nicht bedeutet, dass ich meine Stimme nicht erhebe. Nicht weil ich mir vertraue, sondern weil ich vertraue, dass wenn ich eine Stimme habe, sie auch verwenden darf. Ob ich das auch soll, muss, oder tu, das weiss ich nicht, nur im Moment. Auch diese Gedanken zu erwägen ist mir gegeben.

Ich sehe also, dass mit der Maskenpflicht auch alles wieder erlaubt und empfohlen wird, was wir vorher langsam als Unsinn erkannt haben. Grössere Autos, grössere Häuser, mehr Konsum, Abfälle, mehr Nebenwirkungen. Immer mehr haben wir vorher noch nach Nachhaltigkeit geschrien. Doch nach meinem Gefühl, nach meiner Erfahrung, ist allein der Tod, ob gerecht oder ungerecht, ob zur Zeit oder zur Unzeit, für Nachhaltigkeit zuständig. Und wer bestimmt über meinen Tod, wenn nicht - auch - ich? Weiss jemand eine bessere Idee? Warum die Angst? Warum haben wir so viel Angst vor dem Tod? Weil wir uns als getrenntes Wesen mit eigenem Daseinsrecht empfinden. Das ist auch gut so. Die Angst vor der Veränderung, die kenn ich sehr gut, doch bin ich in der Zwischenzeit damit vertraut, dass man auch etwas loslassen muss, wenn man Zuversicht gewinnen will. Vor allem scheint mir wichtig, dass jeder Einzelne wieder mehr Verantwortung übernimmt. Auch wenn wir in einer globalisierten Welt leben, so bestimmt doch jeder Einzelne den Gang der Geschichte, vor allem ich den der meinigen. Darf ich keine Maske tragen? Brauchen wir die globalisierte, vereinheitlichte Antwort, oder ist nicht grad die der Kern des Problems, der Mensch mit seiner Suche nach allgemeingültigen Antworten? Doch auch da gibt es keine universelle Antwort. Ich bleibe aufmerksam, bin neugierig. Ich arbeite daran. Es wird an mir gearbeitet. Baustelle Jürg, Baustelle Mensch.

Ich frage mich, wo du denn stehst, der du dies liest! Bist du einer der gerne einfach im Fluss des Lebens schwimmt, ganz locker, und auch die Frage der Maske modisch oder schicksalsergeben wegsteckst, oder eher ein Widerstandskämpfer? Begreifst du dich als Hirnzelle, oder ordnest du dich eher dem Bataillon der Darmzellen zu. Oder bist du eine Herzzelle, die den Takt vorgibt? Oder die eines hämorrhoiden Geschwulstes am vermuteten Ende der Geschichte? Immer dachte ich stolz, dass ich eine Hirnzelle sei, bis in mir langsam der Verdacht aufkam, dass die Darmzelle näher am Geschehen sein könnte, die mir mit ganz praktischer Intelligenz den Rang ablaufen könnte. Seither weiss ich es nicht mehr, was ich bin. Ich wandere, zu Fuss, oder im Kopf, und nehme mir einfach das, was mir am besten gefällt, oder mir in den Schoss fällt. Doch die Auswahl ist ja immer wieder - lokal bedingt - beschränkt. So ist es manchmal nur das Beste von allem Schlechten, wie mein Vater es über Gesetz und Regeln gesagt hatte. Aber immerhin das Beste. Das ist eine gute Ausgangslage. Nur das Beste ist genug für mich. Einfach, weil ich es mir wert bin.

Analyse? Ja, du siehst ja, ich bin sehr analytisch unterwegs, doch es ist eine lebendige Analyse, die immer wieder durch Ort und Zeit meines Standpunktes bestimmt wird. Da ich im Rucksack keine Instrumente mit mir trage, verwende ich einfach die Mittel, die an Ort und Stelle zur Verfügung stehen. Das ist einfacher, und für mich stimmiger. Diese Beschränkung auf vorhandene Mittel, und die Hoffnung, dass immer das geeignete Mittel an Ort mir auch zur Verfügung steht - eine Alternative gibt es nicht! - machen mich sicher. Selbst aus der Unsicherheit kann ich diese Sicherheit noch gewinnen. Ich nenne das kurz und bündig Intuition, die wirkt. Intuition ist sowas wie das einfachste wirkungsvollste Instrument, dass keinen grossen Overhead benötigt. Und als Reisender bin ich auf kleinst möglichstes Gepäck angewiesen. Das gefällt natürlich nicht allen. All jene, die über ein komplexes, objektives Instrumentarium verfügen, Tatsachen basiertes Wissen lokal gespeichert haben, und erst noch die Rechte auf ihre Gedanken und Besitztümer glauben zu sichern müssen, sind eben in diesem Besitz verankert, so dass sie es leicht als etwas Universelles begreifen können. Ja, wir sind das, was wir essen, das was wir unser eigen nennen - auch das was wir befürchten. Doch die Hoffnung stirbt zu letzt.

PS: Bestehst du auf der Maske? Es stimmt, damit tue ich mich schwer. Doch ich gehe davon aus, dass auch du weisst, was du tust und in welche Richtung du gehen willst. Es ist kaum möglich, einen Standpunkt zu teilen. Der Standpunkt ist ein spitzer Gipfel auf dem nicht zwei gleichzeitig Platz finden. Das liegt in der Natur von Raum und Zeit. Doch berühren können wir jederzeit - wenn du darauf bestehst, auch mit Maske und in Distanz.

PS2: Es ist so, dass Covid und ich uns viel gestritten und aneinander gerieben haben, doch wir finden immer wieder Frieden. Der Streit geht weiter, ist er konstruktiv? Wir sind einfach derselben Krone verpflichtet.

Gestern hat Dorothea mir dieses Lied als Einstimmung für Guatemala zukommen lassen. Erst da merkte ich, wie angespannt ich bin. Welche Labsal, dieses Lied zu hören und die Bilder zu sehen: "SOMOS" (Sara Curruchich)

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