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Um Atem ringen 

31. Juli 2020, Jürg Messmer

Du fragtest mich, ob ich dir mehr über meine Atemprobleme und meine Erfahrungen mit meiner Atmung erzählen würdest, oder ob dies ein Geheimnis sei, das ich nicht mit dir teilen wolle. Es ist kein Geheimnis, das ich verstecken möchte, es ist höchstens schwierig zu erklären, warum ich mit meiner stockenden Atmung so umgehe, wie ich dies mache. Fast schon ein Geheimnis, wofür ich wahrscheinlich mein ganzen Leben brauche, um es selber zu begreifen. Wahrscheinlich werde ich es erst verstehen, wenn das Geheimnis seinen Zweck erfüllt hat. Vielleicht beginnt dann alles wieder von neuem.

Ich sage immer alles, was es zu diesem Thema zu sagen gibt, auch wenn es nur ein Bruchteil der ganzen Geschichte sein mag. Jeder Text ist voll von meinen Widersprüchen, jeder Atemzug erfüllt vom Stocken, Zeichen von einer Suche, von etwas Unvollkommenem. Meine Atmung bleibt eine Baustelle und das stimmt für mich, vielleicht habe ich mich in dieser Baustelle einfach eingerichtet. Finde Halt darin. Manchmal scheint es mir als würde ich immer mein Instrument stimmen, und es nie verwenden, und dabei entsteht eine eigene Stimmung. Es ist als wäre dieses Stimmen bereits mein Lied - ein Eigenartiges, zugegeben.

Tatsache ist, dass ich mit einem verklebten Lungenflügel geboren wurde, der geöffnet werden musste, und dass ich kurz darauf eine Lungenentzündung erlitt, von der ich mich ohne Inkubator vermutlich nicht erholt hätte. Zugleich war dieser Inkubator vermutlich der Grund, dass ich grosse Angst vor Isolation habe. Vielleicht wollte ich einfach nicht leben. Manchmal denke ich, dass ich vielleicht ob dem grellen Licht erschreckt war und mich gleich hatte zurück ziehen wollen, oder weil bereits die Raumverhältnisse in der Gebärmutter so beschränkt gewesen waren, da ich diesen Raum mit zwei grösseren Brüdern hatte teilen müssen. Vielleicht hatte ich als ewige Seele im Dunkeln gewünscht, das Licht der Welt zu erblicken und wurde das erste Mal mit den Konsequenzen konfrontiert, die Wünsche und deren Erfüllung so mit sich bringen können. Solche Geschichten bleiben Märchen, doch manchmal denke ich, dass ich heute noch in einem Märchen lebe. Immer wieder habe ich versucht, daraus aufzuwachen, doch habe ich mich schliesslich einfach wieder in einem neuen Märchen gefunden. Kurz, die Realität ist nicht so meine Sache, ich kann sie einfach nicht greifen. Wahrscheinlich ist nicht nur meine Lunge beschädigt, vielleicht habe ich auch ungeschickte Hände.

Doch nein, das denk ich nicht. Ich vertraue meinen Händen, auch wenn sie jetzt manchmal etwas schmerzen, vor allem wenn es kühl und feucht ist, und ich merke, dass ich trotz meines Alters noch immer am Leben bin. Doch nicht einmal das weiss ich sicher. Es gibt Momente, in denen ich denke, dass ich vielleicht schon lange tot bin, und es nur noch nicht gemerkt habe. Ich bin nicht schnell von Begriff. Doch da ich an solchen Gedanken immer gescheitert bin, nahm ich praktischerweise an, dass das was ist, Leben ist.

Ich weiss nicht, ob ich aus medizinischen oder psychosomatischen Gründen immer wieder an Atemnot gelitten habe. Bis heute weiss ich das nicht, und ich werde es wohl kaum je wissen. Ehrlich gesagt interessiert mich das auch nicht, ich kann oder will diese nicht unterscheiden. Natürlich kann man klar erkannte medizinische Ursachen mit Medikamenten zu beheben versuchen und dies scheint für viele eine beliebte Möglichkeit zu sein, Quickfixes sind erwünscht. Wir haben ja keine Zeit, und wollen etwas erleben.  So nimmt ein Freund immer seinen Inhalator heraus und macht gekonnt eine Show daraus. Es scheint als hätte er einen passenden Weg gefunden, mit Medikamenten gut zu leben. Wie so viele. Doch meine Sache ist es nicht. Wenn ich an Medikamente denke, so denke ich an paradoxe Reaktionen, an Nebenwirkungen, und daran, dass auch da es kaum eine Rolle spielt, ob die Reaktion psychisch oder somatisch ist. Es sind einfach zwei Ansichten desselben Phänomens. Und so denke ich nur an Ballast, wenn ich an Medikamente denke, an Fesseln, die meine Bewegungsfreiheit und meine Phantasie und meinen Spielraum einschränken. Immer musst du an diese Medikamente denken, daran, sie dabei zu haben, wenn du an Atemnot leidest. Das gleiche gilt für alle Medikamente, die heute verschrieben werden, weil wir uns ändern, das Leben sich ändert. Medikamente gegen die Veränderungen, den Fluss des Lebens. Das Leben scheint manchmal nur noch ein Patient zu sein, der laufend medizinisch kontrolliert werden muss und unerwünschte Löcher gestopft sein wollen. Es ist und bleibt ein undichtes System. Wir sind das einzige Wesen, dass von Geburt an an einer Krankheit leidet, alle anderen leiden vielleicht auch, doch vor allem unter uns Menschen. Doch sie wissen es vielleicht nicht, denn sie sind einfach Teil des Lebens. Der Mensch ist das - scheinbar - nicht.

Es ist so, dass meine Geschichte sehr viel mit meinen Erfahrungen mit medizinischen Leistungen und Medikamenten zu tun hat. Bei mir haben jegliche Mittel immer wieder versagt - wenn man von Notfällinterventionen absieht - so dass der Besuch beim Arzt, und die Versuche mit immer neuen Mitteln, zu einer aussichtslosen Routine geworden waren. Zudem hatten diese Bemühungen und die Sorgen meiner Mutter die Nebenwirkung, dass meine ewigen Sonderzüglein, vor allem von meinem mittleren Bruder, in keiner Weise geschätzt worden waren. Und das zeigte er mir auch deutlich - nicht unverständlich. Eine unangenehme Nebenwirkung, die meine Sonderbehandlung begleitete. So realisierte ich langsam, dass das Leben an sich immer Nebenwirkungen hat. Vielleicht ist aus diesem Schlamassel der Wunsch entstanden, den eigenen Weg zu suchen, auch wenn auch der nicht ohne Nebenwirkungen ist. Vielleicht spielte auch eine Rolle, dass zwar Religion in unserer Familie nie offiziell eine grosse Rolle gespielt hatte, doch dass die Idee von Gott eben oft im Kleinen in Erscheinung trat - in Klagen, in Sprichwörtern, in Seufzern. Auch da dachte ich mir, wieso Gott denken, wenn er nicht auch eine Wirkung entfaltet. Doch wie und welche?

Vielleicht habe ich aus ganz einfachen Gründen Atemnot entwickelt. Ich hatte keinen Platz. Gewöhnt an wenig Raum, hatte ich vielleicht nie erkennen können, dass nun mehr Platz vorhanden wäre, als ich dies in der Gebärmutter erlebt hatte. Ein Trauma sagt man dem vermutlich. Doch hatte ich auch in meiner Familie keinen Platz, vielleicht weil ich der Letzte und Kleinste von drei Brüdern war, und auch Vater viel Platz einnahm, und ich oft dachte, dass ich neben ihm nie meinen Platz würde einnehmen können. Das Irre daran war, dass ich unter fehlendem Platz litt, obwohl ich keine Ahnung hatte, welcher denn der Platz wäre, den ich einnehmen möchte. Mein Vater war Gott, und ich der Sohn, der ohne Mitspracherecht auf die Reise geschickt worden war. Eine unmögliche Situation, die keine Lösung hat. Ein guter Grund für Atemnot. Er ist es immer noch. Auch in Covid-19 Zeiten stehe ich einem allmächtigen Gott gegenüber, der sich in Statistiken, in gleichgeschalteten Zeitungen und drastischen Massnahmen zeigt, die viele einfach zu akzeptieren scheinen. Welch eine Übermacht. Ich versuchte mich dagegen zu wehren, doch ist das schwierig. Ich will ja kein Spielverderber sein, nicht schuldig am Tod eines Anderen, aus Gleichgültigkeit oder Unachtsamkeit. Es ist wie eine tödliche Falle, von Verantwortung oder Selbst-Verantwortung kann man da kaum noch sprechen.

Ich bin nun seit mehr als drei Wochen in Irland. Das Wetter ist regnerisch, die Temperaturen tief und ich bin festgefahren. Eigentlich ist die Situation nicht viel anders als vor drei Jahren, als ich für drei Wochen auf Besuch gekommen war und die Zeit hier sehr genoss. Doch es regnete damals viel weniger, und vor allem, die Perspektive ist eine andere. Und es ist die, die zählt. So sage ich mir, jetzt kann ich es lernen, im Hier und Jetzt zu leben! doch gleichzeitig weiss ich, dass das eine absurde Idee ist, denn Leben als Mensch beinhaltet immer eine ganze Menschheitsgeschichte und auch das was wir Zukunft nennen. Nur wenn diese im Gleichgewicht sind, kann Alltag in Ruhe geschehen. Mein Gleichgewicht ist wie so oft ein sehr dynamisches, ist in Bewegung, nicht immer eine fliessende Bewegung. Meine Reisepläne sind ja ins Stocken geraten, wie auch mein Atem, der Plan dreht im Kreis, meine Wünsche und Visionen erschöpfen sich, liegen danieder und ich bin komplett desorientiert. Das Einzige was mich immer wieder rettet, sind meine Füsse. Immer wieder tragen sie mich an einen Ort, an dem ich die Dinge neu sehe. Doch immer wieder muss ich über dieses Covid Virus nachdenken und das, was es aus uns, was es aus mir, macht.

Am Anfang fand ich den Lockdown ja gut. Er zeigte, dass wenn man keine Alternative hat, man mit dem, "was ist" , mal ganz zufrieden ist. Einfach weil, wenn kein Apero mehr ruft, es auch keinen Grund mehr gibt, sich aus dem Haus zu sehnen. Am Anfang schien alles anders zu werden. Stop des Mobilitätswahnsinns, Solidarität, gemeinsam in der Not. Aufbruch zu neuem Leben. Doch in der Zwischenzeit ist diese Aufbruchstimmung verflogen und die Menschen haben sich zurückgezogen. Vielleicht wird der Rückzug ins private Glück jetzt einfach deutlicher. Glück jene, die genügend Platz, die sich frei bewegen und den Sommer geniessen können. Das kann ich nicht. Ich kann nur geniessen, was ist, und das ist Blockade. Mit dem Stocken kommt auch der Atem mehr ins Stocken. In diesen Tagen ringe ich oft um Atem, geistig und auch ganz real. Die Kälte und die Aussichtslosigkeit ersticken mich. Ich spüre meine verstopften Lungen. Sie bewegen sich synchron zu meinem Befinden. Ich bin konfrontiert mit vielen Ängsten und denke manchmal, dass ich einfacher wieder nach Hause gehen sollte, da könnte ich mich in Behandlung begeben und dem Lauf der Dinge zusehen, im Schoss der schweizerischen Lebensrealität mein Versagen eingestehen, und demütig meinen Platz im Lauf der Dinge einnehmen. Einer von Millionen, der von immer mehr Ärzten in immer besser ausgerüsteten Spitälern, mit immer mehr Operationen und Medikamenten versorgt wird, im Bewusstsein, dass wir auch einen wichtigen Teil zur Gesamtwirtschaftsleistung, zu unserem "Wohlstand", beitragen, und der ist ja das wichtigste.

Doch nein, ich will nicht mein Versagen zugeben, denn erst wenn ich es zugebe, wird es zu dem was es dann ist. Dass ich den Weg auch nicht kenne, das gebe ich gerne zu, doch für mich ist es einfach kein nachhaltiger Weg, und oft denke ich, ich möchte lieber sterben. Ich fühl mich wie der Wurm, der dem Instinkt folgend die Asphaltstrasse erklimmt und dann oft in der Sonne austrocknet oder von einem Auto überfahren wird. Die Autos kann ich nicht stoppen, zudem sitze ich ja manchmal selber auch drin, in dem, das den Wurm zerquetscht. Es ist zum Verzweifeln. Die Atemnot, das Ringen zwischen Mensch und Teil dieser Erde.

Ich habe mich immer gefragt, was denn Gesundheit ist. Ein freier Atem, ein funktionierender Bewegungsapparat, eine gute Verdauung und ein Herz, das geduldig schlägt, solches kann ich gut begreifen. Doch muss ich auch sehen können, wozu es denn überhaupt schlagen und wohin ich mich bewegen soll, und was zu essen Sinn macht. Auch wenn es kaum eine richtige Antwort dazu gibt, so muss ich solche Fragen erklimmen. Darum komme ich nicht herum, das ist mir in die Wiege gelegt. Für mich ist Gesundheit einfach eine umfassende Sache, die weder in Spitälern ihre Antwort findet, noch einfach durch Medikamente und Operationen hergestellt werden kann.

Eine mögliche psychiatrische Diagnose angesichts meines grenzenlosen Betrachtens kann ich mir gut vorstellen. Doch diese kann mich nicht interessieren, die überlasse ich anderen. Mein Leben ist ein Traum. Ein Albtraum manchmal. Ein Märchen, das ich erzähle, immer wieder neu, vielleicht ist ja einfach ein neuer Tag, in dem alles anders, und vieles wieder gleich ist.

Wieder kommt mir die Hoffnung in den Sinn. Hoffnung ist wie Ringen um Atem und auch beim verzweifelten Ringen um Atem findet man immer Luft, oder Raum, auch wenn es nur die Stille ist.

PS: Beim Rauchen habe ich an Atem und Atman gedacht, sowas wie der Atem hinter dem Atem, und war einfach erstaunt, wie viele Sichtweisen es auf das Leben gibt, und daran, dass das Rauchen meine Art ist, mit der Umweltzerstörung umzugehen, das Innere mit dem Äusseren in Einklang zu bringen. Kein Wunder, dass das nicht alle verstehen können.

Musik zu diesem Thema zu finden war schwierig, am besten hat mir noch diese von der Irischen Band The Corrs gefallen: Atemlos - "Breathless"

Bei meiner Weitersuche bin ich auf diese Persiflage zu Helene Fischers Hitparadenstürmers gestossen. Ich musste befreit lachen - riskant zu Covid-19-Zeiten: Christina Bach und Spitaltruppe singen und tanzen "Atemnot in der Nacht"

Schlagwörter: Gegen-den-strich, Gesundheit

3 Kommentare

Hans Staub, 7. August 2020

Lieber Jürg, Deine Beiträge berühren mich sehr. Wie du leibst und lebst.

Noldi, 12. August 2020

Tolles Foto am Ende! Eine Frage: Warum wäre eine Rückkehr in die Schweiz ein Versagen? Ist das nicht eine neue Art eines selbst gebauten Gefängnisses? Ist es nicht möglich dass Du evtl in unserem Land Lebensmöglickeiten erkennen kannst, die Dir mehr entsprechen? Und: Bist Du uns Schweizern Rechenschaft schuldig, wenn Du allenfalls wieder in die Schweiz kommen würdest?❤️

Jürg Messmer, 12. August 2020

Ja, theoretisch hast du Recht. Doch meine Erfahrung ist, dass ich einfach auf meine Intuition hören muss, und einverstanden mit meinem Leben und Denken. Es ist meine Realität, und die ist emotional und ändert sich manchmal sehr langsam, und erst wenn die - vielleicht auch innere - Situation sich ändert, kann ich etwas anderes machen - und vielleicht auch in die Schweiz zurückkommen.

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