Abreise - Paris - Cherbourg
2. Juli 2020, Jürg Messmer
Was für ein fulminanter Start! 5.20 Tagwach. Duschen. Rucksack und Tagesrucksack fertig packen. Kaffee machen und dazu zwei Zigaretten rauchen. Arnold wecken. Letzter Blick in mein verlassenes Gästezimmer. Alles in Ordnung? Ich möchte ja wenig Spuren hinterlassen. Wenigstens keine unangenehmen. Für Maria den Kaffee machen. Uns Raum lassen. Sandwich zubereiten und zweiter Kaffee trinken. Und schon Adieu sagen: Maria. Für Immer? Winken. Mit Noldi aufs Tram springen und die steile Treppe zum HB hinunterlaufen. Kaffee besorgen. Joya kommt. Kurz und bündig. Tattoos, als wären wir ein Liebespaar. Ach, die Welt der Gefühle! ML kommt nicht, ihr Zug ist ausgefallen. Gut so. Nicht, weil sie nicht kommt, doch weil es so viel einfacher ist. Gott hat seine Hände im Spiel. Und dann bin ich mal weg, nachdem mir Joya ein Päckli Switch in die Hand gedrückt hat. Mit Herz. Schneller, einfacher und still emotionaler gehts nicht. Danke. Ein sehr sehr schöner Abschied.
Fahrt nach Basel, letzter Tagesanzeiger mit den üblichen News zu neusten Corona-Massnahmen. Tagesthema. Wochenthema, Monatsthema. Jahresthema. Es ist Zeit, auf Reise zu gehen. Gegen den Strich. Nicht absichtlich, aber notwendig. Basel - Paris in drei Stunden, Höchstgeschwindigkeit 313Km. In den Toiletten steht: Hände gut waschen, aber weder der Seifenspender noch das Wasser funktioniert. Im zweiten WC auch nicht. Alle tragen Masken. Obligatoire. Bin nicht erleichtert, dass ich dank Maske keine Rolle mehr spielen muss, wie Werner meint. Ich weiss nicht, was es anderes gibt, als eine Rolle zu spielen. Auch die Maske ist eine Rolle. Gare de Lyon.
Ich bin unterwegs. Das ist gut so. Über das Leben nachdenken geht da en passant und ist keine Hauptbeschäftigung. Orientieren, laufen, sich anpassen wo nötig. Ausweichen. Neue Wege finden. die Schritte des Unterwegssein geniessen. Gedanken ziehen wie Wolken vorbei - keine Kunst beim Laufen, was sonst ein schwieriger Bewusstseinsstress ist, denn Gedanken haben ja ein Eigenleben. Paris zu Fuss in gut drei Stunden ist einfach das Beste. Mehr braucht es nicht. Von den Gullies bis zu den teuren Läden, wo auch mehr Leute Masken tragen. Vielleicht einfach weil die mit Mehr auch mehr zu verlieren haben? Alles ist dabei. Notre Dame nach dem Brand, Louvre und Jardin des Tuileries, Pont Neuf, und vor allem viele Leute ohne Masken, anders als ich es mir laut Nachrichten aus Frankreich vorgestellt hatte. Gedruckt werden kann ja alles, und hat oft wenig mit der Realität zu tun. Realität entsteht beim Gehen. Sandwich, Durst. Bin zu geizig, um teures Flaschenwasser zu kaufen, vor allem stinkt es mir, eine weitere Plastikflasche wegzuwerfen.
Zu Fuss vom Gare de Lyon zum Gare St. Lazare ist eine gute Vorgabe. Es gibt immer neue Routen zu entdecken, unbekannte Gassen, immer wieder entlang dem Wasser. Blicke ins Unterreich, das diese Stadt am Laufen hält. Viel läuft nicht im Moment. Viel weniger Autos, die Stände entlang der Seine, die Bilder und Nostalgie von früheren Zeiten verkaufen, sind fast alle geschlossen, und wenn offen, dann sehe ich traurige Blicke. Das Corona Virus hat auch diese Stadt neu aufgemischt. Sie muss sich neu erfinden.
Die Eile des Zuges von St. Lazare nach Cherbourg wird unterbrochen. Auch hier gibt es den Personenunfall. Lang ist in Caen unklar, wie wir weiterkommen. Gleissende Nordsonne und Wind vor dem Bahnhof. Soll ich hier übernachten? Bis uns dann ein Lokalzug mit Umsteigen in Lison doch noch kurz vor 8 nach Cherbourg bringt. Vorbei an der Menschenansammlung von Sicherheitskräften, daneben einsam ein in goldene Folie eingepacktes Bündel, das am Boden liegt. Wo ist diese Person hingegangen?
In Cherbourg habe ich Glück. Mein angepeiltes Le Grand Hotel ist geschlossen, scheint heruntergekommen. Das Gran ist diesem vielleicht zum Verhängnis geworden. Doch gleich in der Nähe liegt das kleine Moderna, ein netter Empfang, schönes, ruhiges, kleines Zimmer. Eng aber gemütlich. Ein Bier in der Rue du Port und anschliessend das Essen am Wasser, am Quai Caligny: ein Teller mit Filet St. Pierre und Gratin, und dazu ein Glas Cote de Prôvence. Auch da gibt es wieder Raucher. Ich fühle mich wohl in Cherbourg - unter Dinosaurier. Wie geht diese Reise weiter?
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