Ein Bohème in Guatemala
4. August 2021, Jürg Messmer
Laut lachen musste ich, als ein alter Freund (ein Künstler, mit karger Altersrente) aus der Schweiz meinte, dass ich das Leben eines Bohemien führe; vermutlich einfach, weil ich nach Guatemala ausgewandert bin, was ja für viele immer noch sehr wunderlich sein muss, zugegeben.
Doch ich bin ein Frühaufsteher, esse drei Malzeiten am Tag, und das regelmässig, inkl. Gemüse, Früchte und Haferflocken. Ich trinke nicht viel Alkohol, wenn man mal vom täglichen Bier absieht (im Tanzlokal), und es mir verzeiht, wenn ich dann vielleicht einmal in der Woche zwei Bierchen, oder am Wochenende auch mal zwei Gläser Wein, trinke. Und auch hier schlage ich mich mit Bürokratie herum und mache dies pflichtbewusst - auch wenn diese mich in den Wahnsinn treibt.
So lebe ich gezwungenermassen ein ziemlich diszipliniertes Leben, weil ich sonst allzu überfordert wäre, gehe meistens zwischen acht und neun Uhr Abends ins Bett, schlafe in der Regel etwa 7 Stunden, und das - abgesehen von Albträumen - fast ohne Schlaflosigkeit; wenn man mal von Einschlafproblemen absieht, weil mich mein Nacken quält, und sich die simple Frage stellt, wie ich meine Yogapraxis verbessern könnte, oder ob ich ein dünneres Kissen verwenden sollte, und ob ich nun meine Hausmutter darum bitten oder einfach eines im Einkaufszentrum beschaffen solle. Vermutlich verdächtig ist, dass ich nicht daran denke, meine Einschlaf- und Nackenprobleme mit Medikamenten zu lösen.
Vielleicht ist man heute ja schon ein Boheme, wenn man kein Fernsehen schaut, sich nicht an Facebook-Nachrichten orientiert, oder an Todesstatistiken (die prioritären natürlich, nicht die Hungertoten usw.), und immer noch unter die Leute geht, und das auch zu Fuss, oder im Carrito von Vivi mit offenen Fenstern, auch auf den Markt, wo die Leute sich drängen, wenn auch meist mit Maske. Auch rede ich mit Huren, Besoffenen und Obdachlosen, ohne gleich in Panik ob einer Virusattacke zu verfallen. Selbst jemandem die Hand zu geben ist vermutlich heutzutage Bohème-verdächtig. Auch wenn ich die Hände pflichtbewusst immer wieder wasche.
Zugegeben, etwas eigenartig: ich tanze täglich. Doch das, ohne gleich ein wildes Beziehungsleben zu führen, sondern vor allem darum, um noch träumen zu können, mich zu bewegen (auch mit 70!) und mich zu erfreuen, ohne gleich den Boden unter den Füssen zu verlieren. Das ist viel Arbeit - inkl. Grammatik, Körper- und Mentalkontrolle, also Arbeit, wie man sie früher noch geschätzt hätte. Dass ich das Tanzen jedoch geniesse, ist vermutlich verdächtig. Auch dass ich trotz enger Beziehung mit Vivian auch gerne mit anderen Frauen tanze, und das ohne dies zu verstecken. Oder lieber selber tanze, als bei Tanzwettbewerben mit Promis am Fernsehen mitzufiebern.
Vermutlich würde der Eindruck eines Boheme-Lebens noch bestätigt, wenn dieser Freund wüsste, dass der Boden im Tanzlokal manchmal etwas staubig ist, weil Erika nicht immer Zeit hat, den vorher noch zu putzen. Sie ist ja auch alleinstehende Mutter mit zwei Jungen und Haushalt, und Sprach- (vor allem) und Tanzlehrerin, und das "selbständig". Zudem sind Hunde im Tanzsalon ja auch willkommen. So ist auch sie natürlich eine Boheme, vor allem weil sie immer noch aus dem Haus geht, um für ihre Familie einzukaufen, oder Hundefutter in der Nachbarschaft zu besorgen, weil sie die Strassenhunde füttert, die ihr am Herzen liegen und sich gerne vor dem Tanzlokal versammeln, oder einem alten Mann Arbeit gibt, der regelmässig die leeren Flaschen und Büchsen entsorgt; oder Bier einkaufen geht, damit wir nach dem Tanz ein Bier zusammen trinken können.
Zudem habe ich kein Zugriff auf Bankkonten (Bürokratie), keine Kreditkarte, doch genügend Geld, weil Vivian mich mit Geld versorgt, wir beide uns vertrauen, ohne gleich eine doppelte Buchhaltung zu führen, oder einen Anwalt heranzuziehen; auch das vermutlich ein Zeichen von Bohemia. Vertrauen ist auf diese Art ja nur noch möglich, wenn man eine etwas lockere Beziehung zum Geld hat, und das natürlich nur deshalb, weil man weiss, dass man es noch zur Verfügung hat. Obwohl von sicherem Wissen hier wohl kaum die Rede sein kann.
Wenn ich es mir nun also genau überlege, so lebe ich das Leben eines Bohemen des 21. Jahrhundert. So habe ich also doch noch ein Ziel erreicht, ohne dieses je gehabt zu haben oder im Traum daran zu denken.
PS1: Immer wieder gehe ich mit Vivian einkaufen. Wir sind dran, ihre Wohnung einzurichten, sie soll gemütlich werden. Doch die Tatsache, dass vor ihrem Schlafzimmer zwischen 3 und 5 Uhr morgens viele Busse und grosse Lastwagen die frühen Morgenstunden ausnützen dürfen, und auch sonst viel Verkehr herrscht, plagt sie, also stellt sich die Frage, ob sie nicht eine ruhigere Wohnung suchen müsse. Das beinflusst die Frage, was für diese Wohnung jetzt angeschafft werden soll. Manchmal bringe ich ihr ein Gebäck vom Zuckerbäcker.
PS2: Wenn ich es mir genau überlege, so könnte Xela gut das Paris des 21. Jahrhundert sein, und das "Barrio (Quartier) Las Flores" das "Quartier Latin". Vielleicht einfach, weil die Leute hier noch immer wieder auf der Strasse leben, und oft wahre Lebenskünstler sind. Zwar sterben auch hier immer wieder Menschen an Covid-19, doch gemäss Statistik 50% mehr an Hunger, und 200% mehr an Krebs, ohne dass dies alle so genau wüssten - sind eben auch Bohème.
PS3: Uups, fast hätte ich es vergessen: immer noch rauche ich, und das im Jahr 2021! Trotz wissenschaftlicher (statistischer) und spiritueller Erkenntnisse. Definitiv bohemian.
Lied: "La Bohème" - Charles Aznavour, deutsche Version (Original französisch)
Wiki: "Bohème"
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Petra, 13. August 2021
Hallo Jürg, hoi Jorges,
Ihr bzw. Vivi sollte auf jeden Fall eine ruhigere Wohnung suchen ... wie ist der Wohnungsmarkt in Xela? Gibt es den überhaupt? Ruhe ist wichtig! Das hält ja niemand aus.
Du ein Bohème ... warum nicht. Gefällt mir! Hauptsache der Glimmstengel schmeckt. Mein Vater wurde 87 ... rauchte 2 - 3 Schachteln Reval täglich.
Bringst mir Sachen mit zum Dia de los muertos? Hab grad frisch gebloggt im Totenhemd-Blog zum einem Totenkleid. Bin ich eine Bohèma? Hasta luego. P