de

Düstere Wolken, blauer Himmel 

13. Februar 2022, Jürg Messmer

[In der Hauptstadt, vor dem abschliessenden Interview in Sachen Niederlassung in Guatemala]
Nach meiner Busreise von Xela nach Guate war ich müde, obwohl ich ja nur vier Stunden im Bus gesessen, also eigentlich nichts gemacht hatte; ausser mich jeweils gewundert, dass der Bus immer wieder weiterfahren konnte, obwohl es bei jeder Schaltung in einen höheren Gang krachte, als würden schwere Ketten rasseln. Doch ich kam wie immer wohl behalten und sogar ohne grosse Verspätung in Guate an, Gilda holte mich am Busterminal ab, und nach dem fast schon traditionellen Bier in ihrem Garten legte ich mich aufs Bett und fiel in einen kurzen Schlaf, von dem ich jedoch mit einem düsteren Gefühl aufwachte, mit einer Schwere (Depression!), deren Grund ich nicht einmal genau verorten konnte. Gilda meinte, ich sei anders, wirke müder als sonst. Ich dachte nach, versuchte die dunklen Wolken in Worte zu fassen.


Blick auf die 4-Millionen-Hauptstadt Guatemala, wo sich das Instituto Guatemalteco de Migración (IGM) befindet

Ist es die Niederlassung, die nun kurz vor der Erteilung steht, womit ein Kapitel zu Ende geht, und damit die Frage nach dem "was nun" kommt, wie immer wenn man etwas "erreicht" hat? Oder ist es der Gedanke daran, dass Vivian und ich ja eigentlich schon zusammenleben und sich unser Leben zur Zeit nur um Alltägliches dreht, wie einkaufen, kochen, essen, abwaschen, Wäsche aufhängen und falten, Bett machen, oder Geld am Automaten holen, und Kaffee trinken und Zigis auf der Terrasse rauchen (und ich am Abend tanzen)? Oder ist es, dass wir uns vor allem Sorgen machen, wie es mit ihrem Rücken und ihren Schmerzen weitergehen wird? Werden wir wieder mal etwas anderes machen, als uns immer wieder auszuruhen, und Therapien zu koordinieren? Zum Beispiel, enthusiastisch Texte übersetzen, über Sprache diskutieren, oder am Lehrplan der Schule arbeiten? In unserem so vertraut gewordenen Restaurant Ajitz mal wieder "auswärts" essen gehen? Oder unbeschwert über die holprigen Strassen Xelas laufen und uns dank den so eigenwilligen Gehsteigen wieder einfach umarmen können?


Blick auf das 600'000 Dorf Xela, 5 Stunden von der Hauptstadt weg

Werden wir uns nur noch mit Gesundheitsfragen beschäftigen, auch darüber, ob die Leber und der Magen ihres Bruders sich wieder erholen werden, nachdem er die Leber mit Regelmässigkeit alle paar Monate mal wieder richtig ersäuft hat, weil er das Leben nicht erträgt?  Oder wird bei Don Gustavo eine weitere Krankheit diagnostiziert, und die erneute Medikation schädigt so nebenbei ein weiteres Organ, wie die Medikamente gegen die Diabetes, die seine Leber angegriffen hatten, so dass sie nur noch 20% leistete und er sich wiederum Hormone spritzen lassen musste, um die massiven Nebenwirkungen etwas unter Kontrolle zu bringen?

Zudem kam mir in den Sinn, dass ich seit langem nichts mehr geschrieben hatte, keine Inspiration mehr gehabt hatte, um irgend einen Text zu schreiben, an dem ich das Leben hätte spielerisch abarbeiten können? Wird das nun auf immer und ewig so weitergehen, ist das mein Leben? Mein Leben mit legaler Niederlassung in Guatemala? Nicht einmal die Welt mehr kann ich retten? Und werde ich gar nach jahrelanger Abstinenz wieder sich ewig wiederholendes Fernsehen schauen, um meinen Gedanken zu enkommen, und mich meiner Identität zu versichern? Derart waren meine Gedanken.

Langsam erholte ich mich wieder, vielleicht einfach, weil ich ja weiss, dass alles vorüber geht, selbst solch trübe Stimmungen. Am Abend nach dem Essen überprüften wir meine diesmal erforderlichen Dokumente und es zeigte sich, dass ich die Ausdrucke und Kopien vermutlich falsch gemacht hatte, dass die Bezahlungsbestätigungen der Bank in der Mitte auf die Zahlungsbefehle geheftet (und nicht oben links wie in der Schweiz) und dass diese "Collagen" dann kopiert werden müssten. Zudem müssten die Zahlungsbefehle vertikal ausgedruckt werden, und nicht horizontal (was ja automatisch geschehen sollte)! Mich packte eine ohnmächtige Wut angesichts dieser bürokratischen Spitzfindigkeiten und wollte gleich wieder einmal das Handtuch werfen, wie das mir vorher schon ein paar mal passiert war.

Gleichzeitig realisierte ich, wie dieser einfache Zweifel, dieser eine Gedanke, dass alles falsch sein könnte, mich so schnell und einfach aus der Bahn geworfen und meine ganze Welt in Unordnung gebracht hatte. Kraft der Gedanken! Gilda versprach mir dann, die Zahlungsanweisungen noch vertikal auszudrucken, so dass ich alle Dokumente in verschiedenster Form hätte, um dann nach Anweisung der Migration die Belege an Ort und Stelle zusammenzuheften, und in der Papeterie im Erdgeschoss des Migrationsgebäudes dann noch korrekte Kopien nach ebenso klaren Anweisungen erstellen zu lassen. Zudem beruhigte ich mich auch, weil auf dem Schreiben der Migration ja nichts über die Ausrichtung und die Art des Zusammenheftens der Belege und Kopien die Rede war, sondern nur über das Vorhandensein derselben. Und diese Anforderung erfüllte ich ja bereits. Uff, soweit so gut.

Nun habe ich lange geschlafen, auch wenn etwas unruhig, doch ich bin mit einem etwas sonnigeren Gemüt aufgestanden. Etwas wacklig zwar, immer noch unsicher, doch bereit, meinen Weg wieder etwas zuversichtlicher zu beschreiten. Ich habe über die Bürokratie nachgedacht, die hier und die in der Schweiz: in der Schweiz müsste ich mir vermutlich ob solch widersprüchlicher formaler Fragen das Leben nicht so schwer machen, denn die Vorgaben wären etwas klarer und im Notfall würden sie Zahlungsbefehle und -Belege selber richtig zusammenheften und auch die Kopien selber machen; weil sie schlicht genügend Geld und Ressourcen haben, um dies zu machen, und die Angestellten auch genug Geld verdienen, um es den Kunden nicht besonders schwer machen zu müssen.

Doch auch in der Schweiz ist es so, dass manche mürrisch sind, und auch die Kunden sind trotz dieser Vorteile nur manche fröhlich, vermutlich weniger als hier, wo die Menschen gar nichts anderes kennen, als dass sie einfach Geduld haben und die Anweisungen befolgen müssen, auch wenn sie diese oft (auch) nicht verstehen. Das Schweizer System ist vermutlich besser. Doch hier habe ich genügend Zeit, um mich in Ruhe über Dinge zu ärgern, den Ärger wieder zu vergessen und mich an kleinen Dingen zu erfreuen, auch weil ich mir keine Sorgen darüber machen muss, wo ich nun einen noch besseren Espresso oder Latte trinken könnte.

[In der Hauptstadt, nach der Erteilung meiner Niederlassung als Pensionierter]
Etwas spät, erst um 5:24 war ich heute aufgestanden, stellte die Kaffeemaschine an, öffnete meinen Computer und drehte meine erste Zigarette. Noch bevor alle "Tassen" durch den Filter gelaufen waren, füllte ich meine erste und ging raus, um auch diesen Tag damit zu beginnen, heiligen Rauch in den Himmel zu blasen und die verblassenden Sterne zu schauen. Dann begann ich einen Brief zu schreiben, darauf bedacht, die Geburtstagswünsche so zu schreiben, damit sie hoffentlich den Ohren entsprechend auch gut ankommen. Und ich begann, die Papiere nochmals zu ordnen, immer noch gespannt, wie sich die Frage nach den Originalen und den Kopien der Belege und deren Zusammenfinden im Laufe des Tages lösen würde.

Als Gilda kam, um das Frühstück zu bereiten (Porridge mit Bananen und Nüssen) und mir stolz die Ausdrucke der Zahlungsanweisungen zeigte, die nun vertikal und oben bündig ausgedruckt waren, so dass darunter der Zahlungsbeleg geheftet werden könnte, da entschied ich, es gleich so zu machen, und die Leute der Migration mit solchen Fragen nicht mehr zu behelligen, ihnen keinen Raum für unerwartete Wendungen zu lassen. Also gingen wir auf dem Weg ins Stadtzentrum (heute 1 Stunde, inkl. Zigikauf und Kopien) in das uns bereits vertraute Copycenter, wo die Zahlungsbelege sorgfältig unterhalb des Zahlungsbefehls - beide nach unten gekehrt! -  auf den Kopierer gelegt und jeweils zwei präzise Kopien der drei Dokumente erstellt und Originale und Kopien mit der gleichen Sorgfalt geordnet wurden. Auch andere Kopien machten sie noch, und schenkten mir sogar die Büroklammern, damit ich die zusammengehörigen Dokumente auch "zusammenheften" konnte, ohne die "Original"-Zahlungsbefehle und -belege richtig zusammenheften zu müssen, und damit eventuell einen nicht wieder gut machenden Fehler zu machen, und diese Dokumente unnötig zu durchlöchern. Professionelle Arbeit, Kosten: 50 Schweizer Rappen.

Wir kamen frühzeitig bei der Migration an, und ich konnte bereits um 10:50 Richtung Eingang laufen und Gilda's Vorschlag folgen, dass ich vielleicht früher da, auch früher empfangen werden würde. Doch dem war nicht so. Der Sicherheitsbeamte forderte mich auf, um 11:15 wieder zu kommen, eine viertel Stunde vor dem Interview, wie dies auch auf der Einladung geschrieben stand. Punkt 11:15 war ich wieder da, und konnte in die mir bereits so vertraute Ausländer-Abteilung im ersten Stock hochsteigen, wo ich gleich empfangen, und mein Name in einer Liste markiert und meine Anwesenheit bestätigt wurde, und ich aufgefordert, mich auf einen Stuhl zu setzen, zu warten und auf den Aufruf meines Namens zu achten. Diesmal ohne Nummer für eine längere Warteschleife, die ich auf dem Bildschirm und den Lautsprecheransagen hätte verfolgen müssen.

Mit nur wenigen Minuten Verspätung wurde ich an den Schalter gebeten. Und welch ein Wunder, meine Entscheidung wurde als perfekt befunden, und die Belege akzeptiert und ohne Murren, gar enthusiastisch, in der genau vorausgesehenen Art und Weise auf das Original geheftet, und die Angaben auf den bereits richtig gemachten Kopien mit gelben Stift markiert, und diese sorgfältig in "meine" bereits ziemlich dicke Dokumenten-Mappe abgelegt, und die Klammern wieder sorgfältig geschlossen, so dass sie exakt aufeinander zu liegen kamen. Und das alles flink und kompetent, selbst mit aufgeklebten und Blumenverzierten Fingernägeln.

Dann musste ich die bereits vorliegenden und von einem Vizedirektor unterzeichneten Niederlassungsdokumente (Bescheinigung meines neuen Migrations-Status) und die Verordnung (Rahmenbedingungen der Niederlassung) auf den Inhalt überprüfen und unterzeichnen. Anschliessend wurde ich umgehend ins nebenan liegende Büro gebeten, wo ein professionelles "Täterfoto" (ohne Brille) erstellt wurde und ich den Abdruck meines rechten Daumens auf ein weiteres offizielles Dokument, auf ein Feld gleich unterhalb des grad erstellten Fotos, drücken musste, das wie ein Wunder schon da klebte, das Dokument bereits in doppelter Ausführung (sie war ein paar Minuten weggegangen).


Meine Residenzpapiere liegen bereits bereit

Anschliessend verwickelte mich die Beamtin noch in ein kurzes und sehr freundliches Gespräch, um nochmals meinen Wohnort und meine Geldressourcen zu überprüfen, ging wiederum für einen Moment weg, und übergab mir dann meine Residenz-Dokumente, ohne zu vergessen darauf hinzuweisen, dass ich jährlich nun in die Migration kommen müsse, um mit DPI (ID) bestückt, guatemaltekischem Strafregisterauszug, Beglaubigung meiner finanziellen Unabhängigkeit, und Quittung für die Bezahlung der jährlichen Gebühr von 40$, die jeweilige Verlängerung der Residenz wieder zu erhalten.


Resolution No. 03490-2021 zur dauerhaften Niederlassung als Pensionierter, unterschrieben

Als ich um 12:15 aus der Migration lief, da war ich sehr erleichtert, und gemäss Gilda muss ich sehr fröhlich gewirkt haben, als ich rauchend über die Fussgängerpassage zum Parkplatz lief. Wir gingen in einem Restaurant in einem Botanischen Garten essen und feiern, nachdem sie mich nun seit mehr als einem Jahr, seit dem 6. Dezember 2020, bei diesen Residenz-Verhandlungen unterstützt hatte, und ich mindestens zehn Mal in dieser Zeit bei ihr im Haus in Guate für ein oder mehrere Tage "gelebt" hatte und wir diese bürokratischen Irrungen, inkl. meiner Hoch und Tiefs, gemeinsam durchgestanden hatten.


Feier mit Gilda bei Speis und Trank in der Hacienda Real in Guatemala City

[Zurück in Xela]
Der erste Abend war ich wieder sehr müde und immer noch etwas düster darauf. Vielleicht auch wegen einem kleinen Kater, aber auch weil Neri mich gleich nach der Ankunft auf die möglichen Tücken im Zusammenhang mit der nun bevorstehenden Beschaffung der ID (DPI) und der Steuernummer (NIT) hinwies. Doch nach einer guten Nacht, kam meine Fröhlichkeit zurück, und grad heute ist mir aufgefallen, dass ich mich irgendwie sicherer fühle, und anders mit den Leuten spreche, fliessender mich ausdrücke, weniger ängstlich bin; meine Brust war einmal fast schon mit Stolz erfüllt. Eigenartig, was solche Papiere mit einem machen können. Das Leben geht weiter.

PS1: So ist es, nach der Bürokratie, ist vor der Bürokratie: Der bereits begonnene Prozess der nun erforderlichen Registrierung im Nationalen Personenregister (RENAP) bringt wiederum neue Tücken mit sich: Notarielle Beglaubigung der Kopien der Residenzdokumente fehlten (1. Versuch), dann waren die Steuermarken des Notars abgelaufen (2. Versuch), dann wurde ein Schreibfehler in den Beglaubigungen entdeckt (3. Versuch), so dass ich wiederum zum Notar gehen musste und am kommenden Montag bereits zum vierten Mal wieder ins RENAP gehen muss, um mich dann hoffentlich endlich egistrieren zu können, um mit der Zeit... dann meine guatemaltekische ID (DPI) zu erhalten, unerlässlich, auch für die Eröffnung eines eigenen Bankkontos.

PS2: Bücher begleiten immer wieder mein Leben, das sonst vor allem aus Erleben, aus Nah- und Fernsehen besteht, womit ich jedoch nicht die Bildschirme meine, die auch hier überall anzutreffen sind, und die manchmal auch Vivian beglücken.

Buch1: "El Zahir" von Paulo Coelho. Ein Autor, der seit Jahrzehnten auf meiner Schwarzen Liste stand. Nun habe ich dieses Buch fast schon genossen, weil ich etwas nachgiebiger geworden bin. Er spricht am Schluss von den Menschen und Weisen der kasachischen Steppe, die auch wenn sie oft mit grauen Wolken und Stürmen leben müssen (Aralsee, der "genutzt" und ausgetrocknet ist), den Himmel immer als blau bezeichnen würden. Doch immer noch sehe ich Wolken oft düster, und kann dann das Blaue darüber einfach nicht erkennen. Doch zum Glück scheint hier im Altiplano oft die Sonne, gar in der Regenzeit, so dass ich auch die grauen Tage fast schon würdigen kann. Ohne diese würde es mir vermutlich langweilig.

Buch2: "El Mundo del Misterio Verde" (Die Welt des Grünen Mysteriums). Die Beschreibungen der Erfahrungswelt wilder Tiere von Virgilio Rodriguez Macal haben mich sehr gepackt. Er beschreibt das Leben von Tapiren, Wildschweinen, Löwen, Schlangen und anderen Tieren, von der Nahrungsmittelkette, die im Urwald so deutlich wird. Vor allem das der Schlangen (keine Eltern, kein Gewissen), Sex ohne zu wissen, was oben und unten, wer mit wem) und der Tapire, dem schlauen Poeten, der dem Löwen ein Schnippchen schlägt. Es sind menschliche Erzählungen mit klaren Achsen, weil wir vermutlich ohne solche Referenzen nicht auskommen können.

Lied (inspiriert von Vivi): Facundo Cabral, "No Soy de Aquí, Ni Soy de Allá" (Ich bin nicht von hier, ich bin nicht von da)
Eine noch ausführlichere Version:, ...auch weder von hier noch von da... (mit spanischen Untertiteln)

Deine Mitteilung (Kommentare sind moderiert: Hinweise)

Liste der Einträge