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Weniger ist mehr? Bewusstsein 

16. September 2022, Jürg Messmer

Gestern* notierte ich den Titel "Wenn weniger mehr ist", da ich damit am hadern war, dass ich "keine Aufgabe" hatte und mich fragte, ob die resultierende Lähmung und Mutlosigkeit einen Sinn haben könnte; ob weniger manchmal wirklich mehr sein könnte. Dann funkte das "Bewusstsein" dazwischen, bevor ich dazu kam, über das weniger oder mehr zu schreiben.

Vieles hatte ich gestern vermutlich nicht so "bewusst" gemacht, und der Tag hatte nach einem schönen Beginn eine schwierige Wendung genommen. Vivi war am Morgen nicht grad aufgestanden und ich darüber verärgert, denn es war Montag, der Tag der Woche, an dem ich immer mal wieder Nägel mit Köpfen machen will! In der Zwischenzeit habe ich mich zwar daran gewöhnt, dass die Dinge in unserem Leben hier anders laufen, langsamer, und bin damit ja auch meist sehr einverstanden. Doch immer mal wieder "sticht mich der Hafer" und es muss etwas passieren, für einmal muss etwas erledigt werden, sonst dreht sich die (meine) Welt nicht mehr weiter, meine Form droht sich im Nichts aufzulösen.

Als ich Vivi nach dem Frühstück vorschlug, dass ich doch das Geschirr fertig abwaschen könnte, damit sie in Ruhe duschen könne (damit ich wenigstens etwas zu tun hätte, anstatt nur zu warten), bestand sie darauf, es selber zu tun. "Stur!", dachte ich, noch mehr irritiert, da ich ihre verständlichen Gründe erst später erkannte. Meine Hände waren gebunden, ich musste einfach warten, war frustriert ob der drohenden Verzögerung (mehr als einige Minuten...), legte mich aufs Bett, und machte "nichts" (ausser rotieren, und mich und die Welt "abschlachten"). Als sie dann trotz meines "Nichtstuns" gar zehn Minuten früher als sonst bereit war aufzubrechen, war dies keine Erleichterung mehr; der Tag war bereits gelaufen, denn nun wusste ich endlich, "es braucht mich nicht". Wenn ich etwas tue, wird es nur schlimmer. Die Farbe schwarz war bestimmt für den Rest des Tages. Bewusst, oder nicht?

Vor ein paar Tagen hatte ich - angeregt durch meinen Bruder Arnold - einen sehr interessanten und umfassenden Bericht(1) über eine "künstlich intelligente" Maschine namens Lamda gelesen, in dem einer der Entwickler – sozusagen das "Gewissen" des Entwicklerteams – gesagt hatte, dass diese Lamda ein Bewusstsein habe, gar als eigenständige Persönlichkeit anerkannt werden müsse. Dies hatte offenbar viel Aufregung ausgelöst, denn an der Frage, ob eine (von Menschen programmierte) Maschine denn Bewusstsein haben könnte, und vielleicht erst noch einen Lohn für ihre Arbeit erhalten sollte, scheiden sich - fast gezwungenermassen - die Geister.

Dies ist kaum erstaunlich, denn selbst dieser so umfassende Bericht hatte mir nicht geholfen, endlich zu wissen, was dieses "Bewusstsein" denn überhaupt ist, über dessen Vorhandensein so heftig diskutiert wurde. Einen Tag später hörte ich, inzwischen vom Thema "angefressen", den TED-Talk eines Neurowissenschaftlers über Bewusstsein(2), der in der Konsequenz aussagte, dass es eine bewusste künstliche Intelligenz nicht geben könne. Bewusstsein sei ein Produkt von biologischen Prozessen und nur "lebendigen" Wesen, sozusagen mit Blut und Fleisch am Knochen - wie Tieren und Menschen - vorbehalten. Punkt.

Dieser Redner sprach vor allem darüber, dass die Wahrnehmung eine auf Grund von Erfahrung konstruierte Wirklichkeit, gar eine Halluzination sei, die im Gehirn passiere, dass also nicht etwas eigenständig Wirkliches objektiv "registriert" wird, sondern diese "Wirklichkeit" laufend mitgestaltet oder gar geschaffen werde, man also offensichtlich auch nicht von "der Realität" sprechen kann. Dass dieser Fachmann jedoch trotz seiner ziemlich einleuchtenden Erkenntnis so klar und deutlich sagen konnte, dass Bewusstsein ein rein biologischer Prozess sei, wunderte mich wiederum, denn es schien mir, dass konsequenterweise auch die biologische, wissenschaftliche Erkenntnis ihrerseits eine – wenn auch "vertiefte" – Wahrnehmung, also selbst eine Halluzination, eine Art (geteilter) Wahn, sei, und als eine "konstruierte Wirklichkeit" erkannt werden müsste.

Im Artikel über die KI Lamda hatte ein mit dem Thema vertrauter Philosophe gar gemeint, dass eine solche künstliche Intelligenz die Menschheit retten könnte, weil sie nicht gefühlsgebunden, sondern rein sachlich, vernünftig sei; und, dass sie sich im Notfall gar selbst abschalten könnte, im Gegensatz zum Menschen (was ist mit Suizid?).

All diese Gedanken fand ich sehr interessant, doch am Schluss wusste ich immer noch nicht, was Bewusstsein ist. Auch fragte ich mich, ob eine rein vernünftige Welt denn wirklich eine bessere wäre. Wie sähe die aus? Gäbe es sie dann überhaupt?

Das mit der Vernunft verstehe ich ja irgendwie, auch weil ich ja sehe, wie meine "unbewusste Unvernunft" so manche Schwierigkeiten mit sich bringen kann. Doch frage ich mich eben weiter, ob dies nicht auch in der "Natur" ähnlich ist. Es passiert vieles, das nicht vernünftig zu sein scheint. Doch vielleicht basieren ja natürliche Prozesse auf einer "inneren" Notwendigkeit, nur verstehen wir die nicht, weil die Komplexität des Geschehens unseren Horizont übersteigt; schlicht und einfach auch, weil uns als "teilnehmende" Beobachter die nötige Distanz fehlt, um ein von uns oder vom "ich" getrenntes Objekt Leben oder Erfahrung objektiv zu sehen.

Meine Wahrnehmung scheint auf jeden Fall oft getrübt. Doch dies denke oder sage ich ja nur, weil ich davon ausgehe, dass es sowas wie eine objektive, eine ungebrübte, Wahrnehmung gibt. Letztlich scheint es mir denn keinen Unterschied zwischen dem Funktionieren der Wahrnehmung einer Fliege und der des Menschen zu geben; auch wenn das menschliche Auge beweglicher und hochauflösender sein mag, und wir über Mikroskope (und Teleskope) verfügen, um diese Schärfe noch höher aufzulösen. Doch es sind immer noch Instrumente, die auf einer konstruierten Wirklichkeit basieren, auch wenn sie noch so präzis zu sein scheinen. Und die Erkenntnis dementsprechend subjektiv, auch wenn sie für den Einzelnen, oder eine Gruppe von Gleichdenkenden, objektiv sein mag.

Wie Objektivität - das Allgemeingültige? - gehen soll, das ist mir also weiterhin ein Rätsel. Denn es ist ja bereits im Wort mit enthalten, dass es auch ein Subjekt gibt. Doch das Subjekt und Objekt letztlich ein und dasselbe sein könnten, wird damit ausgeschlossen. Offensichtlich ist unser Denken einfach so konstruiert, und ein anderes Ergebnis nicht möglich. Doch vielleicht ist dies ja genauso unverzichtbar wie die Regeln eines jeden interessanten Spiels. Auch Fliegen müssen nur die Scheisse finden, die sie fressen wollen. Und ebenso klar, dass diese Scheisse für sie (in der Regel) kein "Scheiss" ist.

Am Abend sprachen Vivi und ich über diesen "schwarzen" Tag, der für uns beide eine Herausforderung gewesen war. Einige Fragen konnten wir klären, auch wenn es sich immer noch wie ein Erdbeben anfühlte, dem in der Nacht kleine Nachbeben folgten. Ich frage mich weiterhin, ob solche Erschütterungen mit Bewusstsein vermieden werden könnten, ob es ein Bewusstsein jenseits des "Subjektiven" geben könnte und ob ein sozusagen höheres Bewusstsein möglich ist. Irgendwie glaube ich das nicht, sondern dass unsere Wahrnehmung, unser Bewusstsein immer subjektiv, eben "ortsgebunden" sein muss, und resultierende Erkenntnisse immer wieder erschüttert werden (müssen). Formen müssen offensichtlich eine gewisse Stabilität haben, damit sie als solche erkannt werden und wir uns selbst "erfahren" oder gar "erkennen" können, doch sie verändern sich laufend. Auch mit Bewusstsein muss (kann oder darf) man erst einmal leben. Dies scheint mir immer eine Kunst zu sein, gar ein Gesamtkunstwerk?

PS: Vivian und ich leben seit neun Monaten hier in Xela, Guatemala, zusammen, eine kurze Ewigkeit. Das "Schicksal" hat uns seit mehr als 22 Jahren langsam zusammengeführt. In Ermangelung besserer Worte bleibe ich bei diesem etwas umstrittenen Wort "Schicksal". Wir sind in sehr unterschiedlichen Welten aufgewachsen. Sie ist Quetzalteca, sehr familienverbunden und sagt manchmal, sie sei eine Ausserirdische. Ich, ein "Schweizer", weit weg von meiner Familie, verstehe sie, weil ich immer wieder Schwierigkeiten habe, auf dieser Erde Fuss zu fassen. Es scheint mir jedoch unvermeidlich, dass wir die Dinge unterschiedlich sehen, doch versuchen wir immer wieder, einen Blick durch die Augen des anderen zu werfen. Dass beide "recht" haben ist offensichtlich. Wir halten uns oft an den Händen, um uns unserer gemeinsamen Wirklichkeit zu vergewissern, und so habe ich manchmal das Gefühl, dass wir "wirklich" auf derselben Erde wandeln. Wir basteln weiterhin unsere Realität. Ob wir das bewusst tun oder nicht, weiss ich nicht. Ich kann es verstehen, wenn manche meinen, wir Menschen seien Maschinen. So frage ich mich, ob Maschinen nicht ein Bewusstsein haben könnten, da sie ja Teil unserer Wirklichkeit sind? Doch ist es überhaupt sinnvoll davon zu sprechen, dass etwas (Mensch oder Maschine) Bewusstsein "habe", oder dass jemand bewusster sei als ein(e) andere(r) ? Könnte etwas weniger Bewusstsein gar mehr sein? (3)

PS2: Vivi und ich arbeiten oder leben oft Hand in Hand zusammen, oft auch beim Geschirrabwaschen :-) Dabei ist Reibung unvermeidlich. Wunderbar.

 *"Gestern" war der 26. Juli 2022. Der Tag wurde ziemlich lang: Texte - inkl. Quelle - auf Spanisch übersetzen, wieder zurück, immer wieder "verhandeln". Schreiben und Leben spielen miteinander.

(1) "Lemoine und die Maschine – eine Beziehungsgeschichte", von Eva Wolfangel, Republik, 28. Juli 2022

(2) "Your brain hallucinates your conscious reality", TED-Talk mit dem Neurowissenschaftler Anil Seth, vom 18. Juli 2017

(3) Ein Interview ist mir bei der Suche noch über den Weg gelaufen: mit Elon Musk, einem "Visionär" und dem Entwickler des Luxus-Elektroautos Tesla. In diesem Interview beschreibt er seine Vision, wie die Verkehrsprobleme der Menschen gelöst werden könnten: mit Aufzügen und Röhren unter der Erde. Dazu müssten riesige Infrastrukturen gebaut werden, um seine 2-Tonnen-Autos zu transportieren, und das nur um "ein Bewusstsein" von einem Ort zum anderen zu bewegen, oder vielleicht einfach, damit er selber schnell zum Flughafen kommt. Gehört er auch zu denen, die zum Mars fliegen oder gar dahin entkommen wollen? Das lässt mich weiter am "Bewusstsein" zweifeln. Er sagt, dass es unter dem Boden mehr Platz gäbe als in der Luft über der Erde. Ich fürchte, wir werden nicht nur die Sterne kaum noch sehen sondern auch keine Schätze mehr in der Erde vergraben oder finden können. Doch vermutlich würden wir einen anderen Ort für Geheimnisse finden.
TED-Talk mit Elon Musk: "The future we're building - and boring":

"Titelbild": Fliege auf menschlicher Hand, danke an RND

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