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Der zweite Monat 

6. September 2020, Jürg Messmer

Irgendwie hat mich dieses Buch "Holes" (Louis Sachar) gepackt: die Geschichte eines Jungen, der in ein Lager für jugendliche Delinquenten eingewiesen wird, da er für den Diebstahl der Sneakers eines berühmten Baseballspielers verurteilt wird, obwohl ihm diese einfach vom Himmel auf den Kopf gefallen waren. Weil ihm diese himmlische Geschichte jedoch niemand abnimmt, bleibt diesem unschuldigen Pechvogel nichts anderes übrig, als den Diebstahl zuzugeben.

So muss er in diesem Arbeitscamp bereits am ersten Tag - zur Charakterbildung - ein scheinbar nutzloses, grosses Loch in diesem ausgetrockneten See in der Wüste graben. Am Ende des ersten Tages ist er total erschöpft, die Glieder schmerzen und die Hände sind voller Blasen. Doch insgeheim ist er stolz auf seine Leistung und hofft, dass der zweite Tag, das Graben des nächsten Loches, einfacher sein wird.

Doch das zweite Mal quälen ihn die geplatzten Blasen, und er weiss kaum noch, wie er die Schaufel halten soll, und auch die Kraft muss er aus dem Nichts schöpfen. Und irgendwie wird bereits klar, dass auch das dritte Loch keine Erleichterung bringen wird. Es ist fraglich, ob er jemals der Verdammnis entrinnen kann, die sein Ur-Urgrossvater seiner Familie eingebrockt hatte, weil er scheinbar einer Zigeunerin ein Schwein gestohlen hatte und diese ihn und seine Familie auf ewig verflucht hatte.

Dieser zweite Monat ist also auf den Blasen des ersten gebaut. Nach dem ersten Monat konnte ich scheinbar die Schwierigkeiten noch durch umschreiben in ein etwas positives Licht rücken. Doch in der Zwischenzeit sind auch meine bereits modifizierten Pläne im irischen Wind und Wetter weiter zerzaust worden. Die ganze Unklarheit türmt sich auf wie ein Berg, der zwingend - den Naturgesetzen folgend - irgendwann einstürzen muss. Wird dann das Gleichgewicht wieder hergestellt, wird es einfacher werden? 

Verschiedene Krisen haben diesen zweiten Monat in Irland bestimmt. Das sterbende Kätzchen hat den Monat eingeläutet. Wie geht man mit dem drohendem Tod eines kleinen, verlorenen, leise jammernden Wesens um, das einem ins Leben geschneit wurde, das nicht richtig trinken will oder kann, und dessen Tod sich dann trotz Hoffnung als unvermeidlich herausstellt - hin und hergerissen zwischen Anteilnahme, Vernunft, und der Lust nach der Ruhe einer Zigarette? 

Eine weiterhin virulente Frage betrifft den Umgang mit meinen Hörschwierigkeiten, die ohne klare Antwort bleibt. Hier meine etwas wirren Gedanken dazu: "Kann es nicht mehr hören". Auch sind nicht alle Projekte, die ich in Angriff nehme, immer ganz einfach. So habe ich mich etwas in der Webseite von Frieda verbissen. Wie immer wenn ich etwas verspreche, so versuche ich verzweifelt, dieses zu halten. Selbst wenn ich nicht das Paradies versprochen habe, leide ich trotzdem darunter, wenn ich es nicht schaffe: https://friedameaney.com.

Ein anderes Thema, das mich beschäftigt, ist das Vermissen. Immer wieder sagt mir jemand, dass er oder sie mich vermisse. Das berührt mich, freut mich, doch bereitet mir auch Unbehagen. Es scheint, dass ich zur Zeit kein Talent für das Vermissen habe. Meine Energien sind einfach anders gebunden, durch den Aufbruch, dessen “wohin” sich laufend verändert. Manchmal vermisse ich es, das Vermissen. Und wieder einmal bin ich auf "das Verlassen und Verlassen werden" angesprochen worden, und auf eine mögliche Rückkehr in die Schweiz.

Wie auch beim Bergsteigen - wenn ich alleine, auf mich gestellt, - auf Herausforderungen stosse, die unüberwindbar scheinen, stellt sich die Frage, ob ich umzukehren soll. Manchmal kehr ich um, weil es stimmt. Doch oft treibt es mich weiter, obwohl ich Angst habe. Alles verlangsamt sich und ich schaue genauer hin - und plötzlich sehe dann den nächsten festen Tritt, eine Tür öffnete sich. Was da genau passiert, ist nicht klar. Doch die klare Ausrichtung nach “vorne” ist sicher das A und O für diese Öffnung. Es ist wahrscheinlich wie beim Glauben, es gibt nicht das bisschen Glauben. Es ist eine EntScheidung.

Ob lauter Krisengerede will ich nicht vergessen, dass ich mich hier in Irland gut aufgehoben fühle, vor allem im Basislager bei Sinead, aber auch hier bei Frieda und Hans auf der Beara Peninsula, der Ort, der inzwischen schon fast zu meinem irischen Zweitwohnsitz geworden ist :-). Vor einer Woche bin ich zum zweiten Mal hierher gekommen, und es war gut so. Manchmal scheint es fast, dass die Frauen um mich herum für mich entscheiden, und das gefällt mir ganz gut. Bei Sinead war mir das Dach jedoch langsam auf den Kopf gefallen. Der scheinbare Stillstand, die Ausweglosigkeit, haben mich rastlos werden lassen. Und auch für Sinead ist meine Anwesenheit ja eine Ausnahmesituation.


Irische Hexen Barbara, Margreth, Sinead, Frieda im Coffeeshop in Inistioge

So haben Sinead und ihre Kusine Margreth mich nach Inistioge gefahren, um mich an Frieda zu übergeben, die mit ihrer Freundin Barbara ein paar Tage in der Nähe übernachtet und dem Fluss Barrow entlang gewandert war, und die mich auf dem Rückweg nach Westcork mitnehmen würden. Barbara liess mich problemlos mitfahren, ohne mich zu kennen, und ohne Maske, was ich sehr schätzte.


Der Fluss Nore nahe des Coffeeshops bei Inistioge

Die Fahrt hier runter war eine Befreiung. Bewegung. Auf fast idyllischen irischen Strassen, die meist (noch) keine schweizerisch-perfekten Infrastrukturen sind, sondern eher gut unterhaltenen Dschungelpfaden gleichen - ohne seitliche Sicherheitsabstände oder Velostreifen, und ohne effiziente Basistunnels oder Bergeinschnitte. Zum Glück übernachteten wir nicht noch wie vorgesehen in Cork, sondern fuhren am selben Tag gleich hierher weiter.

Nachdem Frieda den e-Leaf in Cork noch notfallmässig mit etwas Strom geladen hatte - 20 Minuten (ca 35%), für mich ein Bier und eine Zigarette - fuhren wir in den Abend hinein, begleitet von Oldies aus der Stereoanlage, zusammengestellt von geheimnisvollen Spotify-Algorithmen: Fleetwood Mac mit Stevie Nicks (gewünscht), ergänzt durch Crospy Stills Nash & Young, Cat Steven, James Tayler oder Carly Simon. 

Die allgegenwärtigen hohen Hecken flogen in engen Kurven nah an uns vorbei - linkssitzen ist noch immer gewöhnungsbedürftig - und die Küstennahen Berge kamen in Sicht. Dann öffnete sich der Blick auf die Meeresbucht zwischen Sheepshead und Beara Peninsula, die Strassen waren leer und das Wasser ruhig im Licht der Dämmerung, eine Tageszeit die oft zeitlos erscheint. Und zu Hause erwartete uns Hans mit einem guten Essen!


Der westlichste Zipfel der Beara Peninsula - so was wie Finis Terre

Der Sonntag, der 30. Augut, war vermutlich der schönste Tag des Sommers - fast ohne Wind sogar. Wir liefen eine mehrstündige Runde am westlichsten Spitz der Beara Penisula. Fanden Tierpfade am Rande der manchmal steil abfallenden Küste. Keine Menschen. Traumhaft, auch wenn keine Delphine oder Wale zu sehen waren.


Wandern entlang der Küste


Blick auf die Bucht mit dem Strand


Hans und Frieda nach dem Schwimmen in der Bucht (16 Grad?)

Ach Gott, ich tue mich schwer, solche touristischen Berichte zu schreiben. Was gibt es denn über Schönes schon zu berichten. Das ist schnell erzählt. Das Leben trieft ja vor Schönem, selbst traurigste oder schwierigste Momente werden oft gleich wieder durch ein Lächeln oder einen Witz erhellt. Und diese gedeihen ja gut in Irland. Der Humus dazu? Eben, das launische Wetter, in dem ein kurze Aufhellung im Nebel Sonne im Herzen verspricht. Oder die komplizierten Versicherungsmodelle, die einem auf in den Wahnsinn treiben (Sinead muss beweisen, dass sie in den letzten 15 Jahren Auto gefahren ist), lange Wartezeiten bei Ärzten (Mutter Birgit), der Ärger darüber dafür die einzige Nebenwirkung, Handwerker, die es weder mit Terminen noch mit der Qualität ihrer Arbeit so genau zu nehmen scheinen, dafür zum improvisieren anregen. Auch wenn ich die Strassen anschaue, so denke ich, was für ein Glück, dass alles hier langsam geht (ausser manche Autofahrer). Irland wäre ein anderes Land, und ich hätte mich vermutlich nicht hierher verirrt :-)


Auch sooo schön kanns sein! Glanmore Lake Kayaking


... und fünf Minuten später gleich wieder trüb, Frieda zieht den verwöhnten Hans über die Untiefen hoch

Ja, Frieda ist gut für manche Überraschung. So will sie oft noch kurz vor dem Abendessen etwas wandern gehen - und bringt dann meine Aperopläne durcheinander :-) Oder sie möchte Pilze suchen gehen - sie kennt einen Ort, den ihr Polen gezeigt hatten ("Ausländer" kennen solche Orte immer besser). Also fuhren wir hin, und traten durch eine unscheinbare Lücke im Waldrand...

... und standen praktisch mitten im Wasser. Nur nach links gabs einen kleinen Tritt ins Trockene...

...und unter Ästen hindurch betraten wir eine Wildnis, die ich so nicht erwartet hätte, und ...


... da stiessen wir schnell auf viele Eierschwämme, mehr als genug für das Nachtessen!

Bald ist wieder Zeit, um zurück nach Tullow zu gehen. Es ist zu schön hier, und auch Frieda und Hans brauchen wieder einmal eine Pause :-) Und vielleicht hat sich Sinead in der Zwischenzeit ja soweit erholt, dass sie sich wieder auf einen Mitsünder und Projektmitarbeiter freut! Ich hoffe es.

Vielleicht etwas könnte man in Irland wirklich verbessern: die Wanderwege. Doch ich bin nicht sicher. Die Wegzeichen? Vor ein paar Tagen suchte ich alleine den Weg zum nahen See hinunter, suchte die weissen Steine, die Frieda als Wegmarken durch das sumpfige Gelände gelegt hat. Schwierig! Ich hätte vermutlich den Weg ohne diese etwas verlorenen und versteckten Steine genau so schnell, und sogar trockeneren Fusses, gefunden. So richtige Steinmännli am richtigen Ort, das wäre doch schön. Aber andererseits, ist auch gut, dass es diese Steinmännchen nicht überall gibt, so bleiben sie etwas Besonderes. Auch wenn der dritte Monat nun möglicherweise - ohne diese Wegzeichen - wieder ein besonders schwieriger werden mag. Doch auch im Buch mit den Löchern ("Holes") gibt es Hoffnung, dass die Geschichte gut enden könnte - so gibt es immer wieder eine unerwartete Wende.

Draussen beim Geniessen meiner Friedenspfeiffe ist mir das kleine Kätzchen wieder in den Sinn gekommen. Meine Unsicherheit, meine Gleichgültigkeit wegen dessen Schicksal. Vielleicht ist der Unterschied zwischen mir und diesem Kätzchen jener, dass keine Hand mich von der Mutterbrust entfernte, wegen Konflikten mit den zwei anderen die bereits da waren. Vielleicht lebe ich darum noch, und das Kätzchen musste verenden. Hatte die Pfegemutter etwas falsch gemacht? Wir alle sind die Hände Gottes. Wenn immer ich - auch hier - mal wuchernden Bambus rode, oder schnell wachsende, irrtümlich gesetzte, Pappelbäumchen im Wald stutze, denke ich daran. Manchmal lasse dann eines stehen.

Als ich zurück an meinen "Schreibtisch" kam, lag Barney, die Hauskatze, überraschend auf meinem Rucksack zu meinen Füssen und schnurrte. Ist das Kätzchen immer noch da, hat nur seine Form verändert? Wer weiss.

PS: Meine Weiterreise nach Guatemala? über die USA? Aus den USA kommen wenige Funksignale, sie sind vermutlich zusätzlich mit den Präsidentschafts-Wahlen Anfangs November beschäftigt. In Guatemala müsste ich immer noch überall eine Maske tragen, ein Taxi von der Hauptstadt nach Xela nehmen, und ich könnte weder in den Park gehen, noch da einen starken Kaffee trinken, und mich unter die sanften Strassenhunden, die Alkis und Händler mischen. Auch die Cafetera mit ihrer Terrasse wäre vermutlich geschlossen. Und die Schule, und vieles andere, ist immer noch nur virtuell. NIcht meine Sache. Es gibt Hoffnungszeichen, doch Guatemala muss warten.

Irische Musik? "The Sick Note" (Dubliners)

 

 

3 Kommentare

Tessa, 14. September 2020

Spannend zu lesen! und The Sick Note ist herrlich :) Mach's guet, liebe gruess, tessa

Jürg Messmer, 14. September 2020

Es erstaunt mich nicht, dass du als Englisch-afine Person eine der Wenigen bist, die - wie du jetzt diese - die Musik kommentieren. Ich habe mir überlegt, ob ich am Anfang meiner Texte bereits die Musik ankündigen soll, so dass Leser, die eine kurze Zusammenfassung dem Lesen eines langen Textes vorziehen, gleich zur Musik springen können :-)

Natürlich ist es nicht immer einfach, die so genau passende Musik zu finden.

Maya Grieshaber, 11. Oktober 2020

Bist du der Jürg der meiner Tochter vor 30 Jahren einen Holzelefanten geschenkt hat? Dann grüsse ich Dich, heute erwacht und von dir geträumt und was macht man heute damit ( ohne Traumfänger) - google - und nicht wissend ob du das bist in deinen alten Texten hängen geblieben bis zu dem Satz vom sterbenden Kätzchen und den Konflikten mit den 2 anderen die bereits da waren.

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